Nach 8 Jahren Prozessdauer: € 550.000,- Schmerzensgeld + vollen materiellen Schaden für groben Behandlungsfehler bei Frühgeburt

Das Ortenau-Klinikum in Offenburg muss € 550.000,- Schmerzensgeld an ein heute 8-jähriges Mädchen zahlen. Das LG Offenburg hat es aufgrund eines Sachverständigengutachtens als erwiesen erachtet, dass dem diensthabenden Arzt ein sog. „grober Behandlungsfehler“ im Rahmen einer Frühgeburt unterlaufen war. Bei dieser Frühgeburt war es zu Hirnblutungen bei dem Neugeborenen gekommen. Das heute 8-jährige Mädchen hat schwere, irreversible Hirnschädigungen erlitten: es ist gelähmt, blind und leidet unter Epilepsien. Da die Beweislast für die Kausalität des Fehlers für die Blutungen beim groben Behandlungsfehler auf den behandelnden Arzt abgewälzt wird, musste dieser sich entlasten und beweisen, dass die Blutungen auch bei ärztlich korrektem Verhalten aufgetreten wären. Dieser Beweis ist in der Regel unmöglich und war dem beklagten Arzt und der Klinik auch hier erwartungsgemäß nicht gelungen.

Das Gericht hatte den Beteiligten einen Vergleich in Höhe von € 615.000,- vorgeschlagen, in dem auch der materielle Schaden in Höhe von € 65.000,- mit abgegolten werden sollte; die Haftpflichtversicherung der Klinik hatte jedoch abgelehnt.

LG Offenbach, Urteil v. 01.09.2017, 3 O 386/14

Schmerzensgeld für Hinterbliebene in Kraft

Es ist geschafft: Am 22.7.2017 ist das Gesetz zur Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld (BGBl. I 2017, Nr. 48, Seite 2421 ff.) in Kraft getreten. Bei Unfällen mit Todesfolge, aber auch bei anderen Ereignissen, wie z.B. bei ärztlichen Behandlungsfehlern mit Todesfolge können die Hinterbliebenen eines getöteten Angehörigen jetzt unmittelbar vom Verursacher des Unfalls wegen ihres Schocks und ihrer Trauer ein angemessenes Schmerzensgeld verlangen, wenn der Schädiger rechtswidrig und schuldhaft gehandelt hatte. Das ist nun in § 844 Abs. 3 n.F. BGB Gesetz geworden:

„(3) Der Ersatzpflichtige hat dem Hinterbliebenen, der zur Zeit der Verletzung zu dem Getöteten in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis stand, für das dem Hinterbliebenen zugefügte seelische Leid eine angemessene Entschädigung in Geld zu leisten. Ein besonderes persönliches Näheverhältnis wird vermutet, wenn der Hinterbliebene der Ehegatte, der Lebenspartner, ein Elternteil oder ein Kind des Getöteten war.“

Das gab es in Deutschland noch nie: Während alle umliegenden EU-Mitgliedsstaaten schon lange ein pauschales Schock- bzw.Trauer- Schmerzensgeld gewährt haben (Intalien z.B. generell € 50.000,-), gab es in Deutschland Schmerzensgeld für nur mittelbar betroffene Personen (also Angehörige u.a.) nur, wenn diese physisch objektivierbare Auswirkungen der Trauer erlitten hatten, also etwa Kopfschmerzen, Bluthochdruck, Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust, Depressionen. Diese Beschwerden mussten dargelegt und – bei Bestreiten durch den Versicherer des Unfallverursachers – auch bewiesen werden. Beweisen werden musste auch der Umstand, dass diese Symptome durch den Tod des Angehörigen verursacht wurden und nicht etwa anderweitig. Und nur wenn diseer Nachweis gelungen war, gab es ein bißchen was (Deutschland: „Indianer kennt keinen Schmerz“).

Meine persönliche Enschätzung

Das ist gut:

Seit dem 22.7.2017 brauchen die Hinterbliebenen diesen Nachweis physischer Beschwerden nicht mehr zu erbringen.

Das ist nicht gut:

Allerdings hat der Gesetzgeber erneut darauf verzichtet, eine angemessene Mindesthöhe vorzugeben. Das ist schade, denn die Höhe ist immer Geschmackssache des jeweils zuständigen Gerichts. Es ist also vorprogrammiert, dass es von Gericht zu Gericht in den ersten Jahren erhebliche Unterschiede geben wird. Dabei ist Trauer um einen nahen Angehörigen doch für alle Bundesbürger gleich schmerzlich, oder?

Das befürchte ich:

Jetzt geht das Geschachere mit den Rechtsschutzversicherungen wieder los, die ihre Deckungszusage – wie immer – nur für eine bestimmte, von ihnen selbst bewilligte Höhe des Schmerzensgeldes geben werden. Da die Gerichts- und Anwaltsgebühren von der Höhe des Schmerzensgeldes abhängen, waren die Rechtsschutzversicherungen (bis auf eine Ausnahme) immer sehr geizig. Und die Richter sagen: „Wenn Sie nicht mehr verlangen, kann ich Ihnen auch nicht mehr bewilligen“.

Wie ist Ihre Meinung dazu?

Schmerzensgeld für Hinterbliebene

Überall in der EU gibt es für Trauer, Schock und psychische Belastungen von Hinterbliebenen einer tödlich verletzen Person Schmerzensgeld, nur nicht in D. Lediglich körperliche, also (psycho-)somatische Schäden können in D einen Schadensersatzanspruch auslösen, allerdings müssen sie messbar sein und dürfen nur auf das Schockereignis zurück zu führen sein. Ein selbständiger Unternehmer, der mit ansehen musste, wie sein Kind totgefahren wird, bekommt also allenfalls ein paar Cent für Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit oder Bluthochdruck, wenn er sie beweisen kann. Für ein posttraumatisches Syndrom mit Erwerbsunfähigkeit bekommt er dagegen gar nichts. Das ist bei Unfällen im EU-Ausland allerdings anders, denn in den Nachbarländern gibt es in der Regel eine Mindest-Summe für Hinterbliebene (Bsp.: Österreich und Italien € 50.000,- Mindestsumme), und zwar ohne dass man die psychischen Belastungen umständlich belegen muss. Sie werden schlicht vermutet.

Bei grenzüberschreitenden Verkehrsunfällen kommt es also darauf an, welches Recht anwendbar ist. In Betracht kommt das Recht des Staats,

  • in dem der Autounfall, Skiunfall etc. stattgefunden hat oder
  • in dem die Schadensfolge eingetreten ist.

Früher konnte der Geschädigte die für ihn günstigere Rechtsordnung wählen.

Seit dem 11.01.2009 gilt innerhalb der EU jedoch die „Rom-II“-Verordnung.

Art. 4 Abs. 1 Rom-II-VO lautet:

„Auf ein außervertragliches Schuldverhältnis aus unerlaubter Handlung ist das Recht des desjenigen Staates anzuwenden, in dem der Schaden eintritt, nicht dagegen das Recht des Staates, in welchem das schadensbegründende Ereignis oder indirekte Schadensfolgen eingetreten sind.“

Die EU hat sich also auf die „direkte Schadensfolge“ als Anknüpfungsmerkmal für das anzuwendende Recht festgelegt.

Ein solcher Fall war im Jahr 2015 Gegenstand eines Rechtsstreits vor dem EuGH zwischen dem in Rumänien wohnhaften Herrn Lazar und der italienischen Versicherungsgesellschaft Allianz SpA wegen des Ersatzes von Vermögens- und Nichtvermögensschäden, die Herrn Lazar durch den Tod seiner Tochter entstanden sind, die bei einem Verkehrsunfall in Italien ums Leben gekommen war.

Der EuGH hat in seinem Urteil vom 10.12.2015 – Rs. C-350/14 (Florin Lazar ./. Allianz SpA) präzisiert, dass Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO im Falle von Verkehrsunfallschäden so auszulegen ist, dass Schäden, die nahe Verwandte im ­Zusammenhang mit dem Tod einer Person erlitten haben, nur als „indirekte Schadensfolgen“ dieses Unfalls im Sinne dieser Vorschrift anzusehen sind. Da der Geschädigte in Rumänien wohnhaft war, war diese indirekte Schadensfolge somit in Rumänien eingetreten. Darauf kommt es aber nicht an, so der EuGH:

Der hier maßgebliche „Schaden“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Rom-II-VO war nach Auffassung der EuGH-Richter nämlich bereits mit der Verletzung der verstorbenen Tochter eingetreten und nicht erst mit der Schockfolge beim Vater. Der „Schaden“ war nach Auffassung der Richter also in Italien eingetreten. Somit richten sich auch die Folgeschäden nach italienischem Recht.

Im Ergebnis konnte das italienische Gericht auf die Frage, ob es dem Vater Schmerzensgeld für den erlittenen Schockschaden zubilligen durfte, daher italienisches Recht anwenden. Der Vater konnte somit von der Allianz SpA Schmerzensgeld nach italienischem Recht verlangen.