BGH: Weiteres Urteil zur Vorsatzanfechtung

Karlsruhe, 24.02.2022 – Zum Vorsatz im Anfechtungsrecht

Beim Vorsatz muss man genau hinschauen, denn:

„Beim Vorsatz verbietet sich jegliche Spekulation“.

zit.: BGH in Strafsachen, 4 StR 399-17 („Raser-Urteil I“), zur Ermittlung des dolus eventualis beim Täter

Diese Rechtsposition hatte die Verfasserin bereits mehrfach in ihren Vorträgen zum Anfechtungsrecht beim FORUM Institut für Management im Jahr 2018 in Frankfurt/M. und zuletzt bei der ZIP-Tagung des Otto-Schmidt-Verlags im Jahr 2021 vertreten. Offenbar ist nunmehr auch der BGH in Insolvenzsachen dieser Meinung. Wie schön!

Die Verteidigung eines Anfechtungsgegners gegen eine Vorsatzanfechtung ist herausfordernd, aber nicht aussichtslos. Insbesondere wenn es um den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners geht, der zwingende Voraussetzung für die Anfechtung nach § 133 Abs. 1 InsO ist, kämpft der Gläubiger auf unbekanntem Terrain, denn dazu kann er schlicht gar nichts sagen. Gleichwohl ist die Feststellung des (fehlenden) Vorsatzes für den Gläubiger essentiell. Denn ohne Vorsatz keine Kenntnis vom Vorsatz und somit auch keine Anfechtung beim Gläubiger. Es ist deshalb die einzige Aufgabe des Verteidigers, darauf zu achten, dass der Vorsatz korrekt ermittelt und nicht wild herumspekuliert wird.

Der BGH hat sich jetzt ein weiteres Mal zu den Voraussetzungen an den Schuldnervorsatz im Rahmen einer Anfechtung nach § 133 Abs. 1 InsO geäußert:

Die Zahlungsunfähigkeit stellt nur dann ein Indiz für den Benachteiligungsvorsatz dar, wenn der Schuldner seine Zahlungsunfähigkeit erkannt hat“ heißt es in Tenor 1 des Urteils vom 24.02.2022 – IX ZR 250/20.

https://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=2022-2&nr=127541&pos=4&anz=150

Damit mit stellt der BGH nochmals ausdrücklich klar, dass die Kenntnis des Schuldners von seiner Zahlungsunfähigkeit nicht einfach vermutet werden darf. Es muss vielmehr bewiesen werden, dass er ein entsprechendes Bewusstsein auch tatsächlich HATTE. HÄTTE HABEN MÜSSEN reicht nicht. Damit baut der IX. Zivilsenat seine Rechtsprechung aus dem Urteil vom 6.5.2021 – IX ZR 72/20 – weiter aus. Es war immer schon klar, dass ein Vorsatz beim Schuldner nur dann angenommen werden kann, wenn dieser zahlungsunfähig war und seine Zahlungsunfähigkeit auch kannte. Das ist insofern also nichts Neues. Neu ist allerdings, dass der BGH diese Kenntnis jetzt hinterfragt und somit verlangt, dass die Verwalter zu allen Vorsatzelementen konkret vortragen, und zwar sowohl zum kognitiven (Wissens-) als auch zum voluntativen (Wollens-)Element. Das war bisher nicht notwendig. Der gängigen Auffassung etlicher Untergerichte, wonach Kenntnis HAT, wer sie ZU HABEN HAT, wird hier also eine Absage erteilt.

Dadurch wird gleichzeitig die Abgrenzung zur Haftung des Geschäftsführers nach § 15b InsO (früher: § 64 GmbHG) schärfer gezogen. Das Urteil des BGH vom 6.5.2021 wird von Verwalterseite scharf dafür kritisiert, dass einem Geschäftsführer, der nach § 15b InsO wegen Insolvenzverschleppung haften muss, bei der Anfechtung aber kein Vorsatz unterstellt werden darf. Das ist so aber nicht richtig:

Die Kritik übersieht dabei, dass die Anforderungen an die Haftung des Geschäftsführers nach § 15b InsO deutlich niedriger sind, denn hierfür reicht einfache Fahrlässigkeit aus, wogegen bei der Vorsatzanfechtung eine fahrlässige Handhabung der Dinge eben nicht ausreicht. Es musste  vielmehr vorsätzlich gehandelt worden sein, und zwar im Einvernehmen mit dem Gläubiger. Denn angefochten wird wegen Vorsatzes des Geschäftsführers ja nicht bei diesem, sondern beim Gläubiger! Dieser musste sich sozusagen mit dem Geschäftsführer gemein gemacht haben nach dem Motto, „Ich nehme das Geld, koste es die anderen Gläubiger, was es wolle.“

Die Haftung nach § 15b InsO greift also bereits ein, wenn der Geschäftsführer die Kenntnis von der Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft ZU HABEN HATTE. Das reicht bei einer Vorsatzanfechtung aber eben nicht aus. Diese greift erst dann ein, wenn er sie auch tatsächlich GEHABT HATTE. Wenn der GF die Kenntnis also tatsächlich HATTE, greift sowohl der § 15b InsO als auch der § 133 Abs. 1 InsO (letzterer natürlich nur, wenn die zusätzlichen, gläubigerseitigen Voraussetzungen vorliegen). Umgekehrt: Wenn er die Kenntnis nur ZU HABEN HATTE, ist er im Bereich der (groben) Fahrlässigkeit unterwegs, was für eine Haftung nach § 15b InsO ausreicht, für eine Vorsatzanfechtung dagegen nicht. Es gibt sicherlich eine Grauzone, z.B. wenn der GF „angestrengt wegschaut“, etwa weil er damit rechnet, dass die liquiden Mittel dauerhaft notleidend sind und auch bleiben werden. Wer wegschaut, damit er nicht sieht, was er schon weiß, der kann natürlich mit mangelnder Bewusstseinsbildung nicht gehört werden.

Mit der Entscheidung vom 24.02.2022 führt der BGH seine Rechtsprechung zu den Anforderungen an den Vorsatznachweis in Bezug auf die Kenntnis von der Zahlungsunfähigkeit nun fort.

Zunächst hatte der BGH nämlich nur das zweite Element des Schuldnervorsatzes überprüft, nämlich die Kenntnis von der gläubigerbenachteiligenden Wirkung seiner Zahlungen.

Beispiel:

  • BGH, Urt. v 12-09-2019, IX ZR 264-18 – ein unterhaltspflichtiger Schuldner meinte (irrig), er zahle den Unterhalt aus seinem pfändungsfreiem Einkommen. Der BGH meinte, dieser Irrtum könne darauf hinweisen, dass er kein Bewusstsein gehabt haben könnte, dass die Gläubiger geschädigt wurden, und wies die Sache zur weiteren Aufklärung zurück ans LG Lüneburg
  • BGH, Urt. v 18-07-2019, IX ZR 258-18, Urlaubskasse (1)
  • BGH, Urt. v 18-07-2019, IX ZR 259-18, Urlaubskasse (2)
  • BGH, Urt. v 21-11-2019, IX ZR 238-18, SOKA-Bau (Gegenleistungen)

In allen diesen vier Urteilen erkannte der BGH Anzeichen dafür, dass der Schuldner offenbar geglaubt hatte, durch die Zahlung von Rückständen und entsprechenden Kontenausgleich könne er später fällig werdende Ersatzleistungen (Ansprüche auf Ersatz von Urlaubsgeld u.a.) von einer Ersatzkasse generieren, wodurch die Abflüsse durch Zuflüsse wieder ausgeglichen würden. Obwohl im Anfechtungsrecht spätere Zuflüsse mit den anfechtbaren Abflüssen nicht saldiert werden dürften, so der BGH, bestünden doch erhebliche Zweifel an dem Bewusstsein des Schuldners, seine Gläubiger zu schädigen, und wies die Sachen zur weiteren Aufklärung jeweils zurück ans OLG Frankfurt/M. Der dortige „Spezialsenat“ hat überhaupt nichts dazu aufgeklärt, sondern den Hinweis des BGH als erwiesene Tatsache unterstellt und die Klagen insoweit abgewiesen. Von mir aus.

Mit Urteil vom 06.05.2021 – IX ZR 72/20 – hatte der BGH diese Rechtsprechung sodann weiter verfestigt:

„Tenor b)  Der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners setzt im Falle der erkannten Zahlungsunfähigkeit zusätzlich voraus, dass der Schuldner im maßgeblichen Zeitpunkt wusste oder jedenfalls billigend in Kauf nahm, seine übrigen Gläubiger auch künftig nicht vollständig befriedigen zu können; dies richtet sich nach den ihm bekannten objektiven Umständen.“

Neu war hier, dass diese Kenntnis sich auch auf die Zukunft beziehen muss, d.h. der GF musste gewusst haben, dass er die anderen Gläubiger voraussichtlich gar nicht mehr würde befriedigen können, und zwar nicht mehr nur binnen der Antragspflicht, also binnen 3 Wochen, sondern dauerhaft nicht. Hierfür müssen objektive Umstände herangezogen werden, die jeweils exakt zu ermitteln sind. Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen dieser Umstände und für die Kenntnis des Schuldners hiervon liegt beim Insolvenzverwalter.

Während die vorzitierten Urteile sich vorwiegend mit dem Bewusstsein des Schuldners über die Folgen seiner Zahlungen befassten, äußert der BGH sich in seinem Urteil vom 24.02.2022 nun zur Kenntnis des Schuldners von seiner eigenen Zahlungsunfähigkeit bzw. von der Zahlungsunfähigkeit seines Unternehmens:

Was war passiert?

Die Schuldnerin hatte turnusmäßig Lizenzgebühren in Höhe von € 15.000 an ihre Gesellschafterin bezahlt; im Nachhinein stellte sich jedoch heraus, dass die Schuldnerin durch Kündigung und Fälligstellung von Wandel-Darlehensforderungen anderer Gläubiger zu diesem Zeitpunkt tatsächlich bereits objektiv zahlungsunfähig geworden war. Der GF der Schuldnerin war bei Vornahme der Zahlung allerdings noch davon überzeugt, dass diese Forderungen vertraglich nicht durchsetzbar waren, weil für die Darlehen zum einen eine feste Laufzeit vereinbart war, und sie im Übrigen einem vertraglich vereinbarten, qualifizierten Rangrücktritt unterlagen.

In Nachhinein hatte sich offenbar erwiesen, dass er Unrecht hatte, und dass die Rückforderungen tatsächlich liquide waren.

Der BGH hat diese Situation so bewertet, dass der Geschäftsführer sich keinen Benachteiligungsvorsatz gebildet hatte, und zwar mit folgender Begründung:

Ob der Schuldner seine Zahlungsunfähigkeit erkannt hat, hängt in erster Linie davon ab, ob er die Tatsachen kennt, welche die Zahlungsunfähigkeit begründen, und ob die gesamten Umstände zwingend auf eine eingetretene Zahlungsunfähigkeit hinweisen. Hierzu muss der Schuldner nicht nur die Forderungen kennen, sondern auch deren Fälligkeit im Sinne des § 17 Abs. 2 Satz 1 InsO.

Hält der Schuldner eine Forderung, welche die Zahlungsunfähigkeit begründet, aus Rechtsgründen für nicht durchsetzbar oder nicht fällig, steht dies einer Kenntnis entgegen, sofern bei einer Gesamtwürdigung der Schluss auf die Zahlungsunfähigkeit nicht zwingend naheliegt (Verweis auf BGH, Urt. v. 19.02.2009 – IX ZR 62/08, Rn. 14).“

Für letzteres hatte der Kläger allerdings nichts vorgetragen.

Der BGH hat zunächst festgestellt, dass die Schuldnerin im Zeitpunkt der Zahlung von der mangelnden Durchsetzbarkeit der Forderungen ausging, und somit schon gar keine Kenntnis von der (tatsächlich aber eingetretenen) Fälligkeit der Forderungen hatte, und folgert daraus:

„Hatte die Schuldnerin keine Kenntnis davon, dass die gegen sie gerichteten Forderungen fällig waren, kann nicht angenommen werden, dass sie ihre Zahlungsunfähigkeit in einer für den Benachteiligungsvorsatz nach § 133 Abs. 1 InsO sprechenden Weise erkannt hat.“

Auch hier spielt das Bewusstsein des Schuldners also die entscheidende Rolle.

Fazit:

Für einen außenstehenden Gläubiger wird es schwer sein, einen solchen inneren Vorgang auf Seiten des Kunden festzustellen und entsprechenden Gegenvortrag zu führen. Entsprechender Sachvortrag des Verteidigers liefe Gefahr, „ins Blaue hinein“ vorgebracht zu werden. Allerdings zeigt dieser Fall eindrücklich, dass es durchaus Zusammenhänge gibt, die als äußere Anzeichen für einen mangelnden Benachteiligungsvorsatz streiten, und es ist die Pflicht des Gläubigervertreters, diese Anzeichen zu erkennen, zu ermitteln, vorzutragen und Bedenken gegen den Vorsatz zu formulieren, damit das Gericht dem nachgehen und einen Hinweis an den Verwalter erteilen kann.

Nicht ohne einen gewissen Stolz darf ich mitteilen, dass die Verfasserin diese Verteidigungsansätze seit Jahren verfolgt und sozusagen „erfunden“ hat. Umso größer ist jetzt natürlich die Freude, dass der BGH auf diese Linie einschwenkt.

Kann nämlich schon nicht festgestellt werden, dass der Schuldner die Zahlungsunfähigkeit und/oder die gläubigerbenachteiligende Wirkung seiner Zahlungen erkannt hatte, ist der Anfechtungsprozess schon gewonnen, denn dann kommt es auf die Kenntnis von Umständen, die für einen solchen Vorsatz streiten, und somit auf eine Kenntnis des Gläubigers, gar nicht mehr an.

Dabei stellt sich natürlich gleich die nächste Frage, nämlich wie stark die Beweiskraft von Umständen generell sein kann, wenn es grds. möglich ist, dass trotz Vorliegens verdächtiger Indizien tatsächlich fstgestellt werden muss, dass der Schuldner gar keinen Vorsatz hatte. Aber das ist ein anderes Thema.

Ein weiterer, interessanter Aspekt dieser Entscheidung ist Folgender:

Der BGH sagt:

„Ob der Schuldner seine Zahlungsunfähigkeit erkannt hat, hängt in erster Linie davon ab, ob er die Tatsachen kennt, welche die Zahlungsunfähigkeit begründen.“

Frage:

Beinhaltet die Definition des BGH von der Zahlungsunfähigkeit (mindestens 90% Deckung ist binnen 3 Wochen nach Fälligkeit herzustellen) auch solche „Tatsachen“, welche die Zahlungsunfähigkeit begründen? Was ist, wenn der Schuldner die Definition des BGH gar nicht kennt – was häufig der Fall sein wird? Was ist, wenn er geglaubt hat, er habe viel mehr Zeit, seine Verbindlichkeiten zu bedienen, als nur 3 Wochen? Was ist, wenn er den Deckungsgrad seiner Verbindlichkeiten gar nicht kennt, weil er die Buchhaltung erstens nicht selbst und zweitens nicht nach Fälligkeiten erledigt, geschweige denn eine prospektive Finanzflussrechung erstellen lässt?

  • Im Rahmen des § 15b InsO schützt ihn das eher nicht, weil er sich hätte Gewissheit verschaffen können und evtl. auch müssen. Als Geschäftsführer haftet er also für die Zahlung an den Gläubiger.
  • Im Rahmen des § 133 Abs. 1 InsO dürfte aber das Bewusstsein fehlen, das für einen Gläubigerbenachteiligungsvorsatz nun mal notwendig ist. Der Gläubiger haftet also nicht (mit).

„Beim Vorsatz verbietet sich jegliche Spekulation“.

Dieser Grundsatz scheint sich auch in Anfechtungssachen langsam durchzusetzen. Wie schön!

Bonn, den 22.03.2022 / B. Brenner

 

 

 

Urteil v. 6.5.2021 – BGH leitet Kehrtwende im Anfechtungsrecht ein

Vermutungen, Indizien und fragwürdige Erfahrungssätze – das waren die Säulen, auf denen die Insolvenzanfechtung nach § 133 InsO seit nunmehr über 15 Jahren beruht. Für die Insolvenzverwalter bedeutete das leichtes Spiel: Zielüberschreitungen und mehrfache Zahlungsstockungen reichten aus, um das Inkasso von bis zu 10 Jahren zunichte zu machen. Erhebliche Zahlungen mussten zurückgezahlt werden, obwohl die Leistung vereinbarungsgemäß erbracht war. Der Grund dafür lag in der Vermutung, dass ein Schuldner, der seine Zahlungsunfähigkeit kennt, mit der Zahlung an einen Gläubiger den Ausfall anderer Gläubiger vorsätzlich in Kauf nahm. Vorsatz setzt aber (positive) Kenntnis von der eigenen Zahlungsunfähigkeit im Rechtssinne und die sichere Annahme von den gläubigerschädigenden Folgen voraus. „Kann sein, dass hier Gläubiger geschädigt werden, ich zahle meinen Lieferanten aber auf jeden Fall“ oder „Da passiert nix“, das sind die Testfragen, mit denen Vorsatz von Fahrlässigkeit abgegrenzt wird. Das hatte im Anfechtungsrecht aber nie stattgefunden. Ob der Schuldner die objektive Zahlungsunfähigkeit, also die Unbehebbarkeit des Mangels an Zahlungsmitteln, tatsächlich kannte, oder ob er nur von einer vorübergehenden Zahlungsstockung, also von einem behebbaren Zustand, ausgegangen war, wurde nie näher untersucht. Die Gerichte waren immer der Meinung, dass ein Schuldner, der zahlungsunfähig war, diesen Umstand auch zu kennen hatte. Ob er nur von einer vorübergehenden Zahlungsstockung ausging, ob er die Definition des BGH überhaupt kannte (Unterdeckung von 10 % der fälligen Forderungen reicht aus), oder ob er von der betriebswirtschaftlichen Definition ausgegangen war (Liquidität 1., 2. und 3. Grades), das wurde nie untersucht. Ob dem Schuldner bewusst war, dass andere Gläubiger durch die konkrete Zahlung tatsächlich endgültig ausfallen werden, auch das wurde nie untersucht. Der Vorsatz des Schuldners war deshalb für die Anfechtungsgegner bisher kaum zu widerlegen.

Auch bei der Kenntnis des Geschäftspartners von diesem (angeblichen) Vorsatz war der BGH bisher sehr apodiktisch:

Zielüberschreitungen, Ratenzahlungsbitten, Vollstreckungsversuche, all das reichte als Indikator für eine Zahlungseinstellung aus; damit hatte der Geschäftspartner gleichzeitig Kenntnis von dem Vorsatz des Schuldners und wurde zur Rückzahlung von sämtlichen Zahlungseingängen aus dem Inkasso verurteilt.

Meine Kanzlei hatte in allen Anfechtungsprozessen die Meinung vertreten, dass es auf den Empfängerhorizont ankommt, auf die Gepflogenheiten im Geschäftsverkehr, vor allem aber auf die internen Mahn- und Insolvenzstatistiken ihrer Mandanten und die überwiegend positiven Erfahrungswerte mit Ratenzahlungsvereinbarungen in der Branche. Zu Recht, wie sich jetzt herausstellt:

Mit Urteil vom 6.5.2021 – IX ZR 72/20 – hat der BGH nun – in neuer und jüngerer Besetzung – ein Urteil des Landgerichts Bonn aufgehoben, weil weder der Vorsatz ausreichend dargelegt wurde noch ausreichende Indikatoren für eine Kenntnis des Zahlungsempfängers von diesem angeblichen Vorsatz vorhanden waren.

Mit diesem Urteil bestätigt der BGH seine neue Linie, von pauschalen Vermutungen abzurücken und auf das konkrete Bewusstsein des Schuldners und auch des Anfechtungsgegners abzustellen. Bereits im Jahr 2019 hatte der BGH vorsichtig begonnen, das Bewusstsein des Schuldners näher untersuchen zu lassen (BGH-Urteile IX ZR 238/18, 258/18, 259/18 und 264/18). Daran könne es fehlen, so der BGH, wenn der Schuldner sich vorgestellt hatte, durch die Zahlungen werde das Vermögen des Unternehmens künftig angereichert, etwa durch Ausgleichszahlungen aus der Urlaubskasse der SOKA-Bau. In dem Fall 264/18 war der Schuldner möglicherweise davon ausgegangen, dass sein Guthaben unpfändbar war und der künftigen Masse also gar nicht zuzurechnen war. Die Rechtsstreitigkeiten wurden jeweils an die Ursprungsgerichte zur näheren Aufklärung zurückverwiesen. So jetzt auch in dem Fall des LG Bonn.

Der BGH hat diese Tendenz jetzt aber nicht nur im Hinblick auf den fehlenden Vorsatz des Schuldners verfestigt: Auch im Hinblick auf die Erkenntnismöglichkeiten des Geschäftspartners und Zahlungsempfängers stellt der BGH jetzt erstmalig klar, dass es insoweit auf den Erkenntnishorizont des Anfechtungsgegners ankommt. Hierzu muss natürlich vorgetragen werden.

Und last but not least:

Eine nur drohende Zahlungsunfähigkeit ist kein geeigneter Indikator für einen Gläubigerbenachteiligungsvorsatz!

Damit wendet der BGH die Anfechtungsreform auch auf Alt-Fälle an, wonach die drohende Zahlungsunfähigkeit bei kongruenter Deckung nicht ausreichend ist (§ 133 Abs. 3 n.f. InsO).

Hier sind die Leitsätze:

a) Die Annahme der subjektiven Voraussetzungen der Vorsatzanfechtung kann nicht allein darauf gestützt werden, dass der Schuldner im Zeitpunkt der angefochtenen Rechtshandlung objektiv zahlungsunfähig ist.

b) Der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners setzt im Falle der erkannten Zahlungsunfähigkeit zusätzlich voraus, dass der Schuldner im maßgeblichen Zeitpunkt wusste oder jedenfalls billigend in Kauf nahm, seine übrigen Gläubiger auch künftig nicht vollständig befriedigen zu können; dies richtet sich nach den ihm bekannten objektiven Umständen.

c) Für den Vollbeweis der Kenntnis vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners muss der Anfechtungsgegner im Falle der erkannten Zahlungsunfähigkeit des Schuldners im maßgeblichen Zeitpunkt zusätzlich wissen, dass der Schuldner seine übrigen Gläubiger auch künftig nicht wird befriedigen können; dies richtet sich nach den ihm bekannten objektiven Umständen.

d) Auf eine im Zeitpunkt der angefochtenen Rechtshandlung nur drohende Zahlungsunfähigkeit kann der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners in der Regel nicht gestützt werden.

e) Eine besonders aussagekräftige Grundlage für die Feststellung der Zahlungseinstellung ist die Erklärung des Schuldners, aus Mangel an liquiden Mitteln nicht zahlen zu können; fehlt es an einer solchen Erklärung, müssen die für eine Zahlungseinstellung sprechenden sonstigen Umstände ein der Erklärung entsprechendes Gewicht erreichen.

f) Stärke und Dauer der Vermutung für die Fortdauer der festgestellten Zahlungseinstellung hängen davon ab, in welchem Ausmaß die Zahlungsunfähigkeit zutage getreten ist; dies gilt insbesondere für den Erkenntnishorizont des Anfechtungsgegners.

Der Erkenntnishorizont des Anfechtungsgegners ist damit zum zentralen Element der Vorsatzanfechtung geworden. Sämtliche Anfechtungsprozesse, die noch nicht entschieden sind, müssen jetzt auf diese Rechtsprechung eingestellt werden.

Diese Kehrtwende in der BGH-Rechtsprechung war angekündigt worden, aber sie war wohl erst durch einen Personalwechsel im Senat möglich geworden.

Künftig dürfen noch weitere Änderungen erwartet werden, etwa bei der Annahme, die Geschäftstätigkeit des Schuldners sei bereits für sich genommen ein ausreichender Indikator für die Benachteiligung anderer Gläubiger. Diese Logik hat sich mir nie erschlossen. Insbesondere Stromlieferanten, Verbundgruppen, Einkaufsgenossenschaften etc. machen regelmäßig die Erfahrung, dass ihre Forderungen die größten Einzelforderungen sind, dass sie deshalb vorrangig um Warenkredit gebeten werden, wogegen die übrige Geschäftstätigkeit des Schuldners störungsfrei abläuft.

Durch dieses neue, wegweisende Urteil des BGH wird es den Insolvenzverwaltern künftig nicht mehr gelingen, redlich verdiente Zahlungsrückläufe über Jahre hinweg mit einem Zweizeiler erfolgreich anzugreifen.

Bitte überprüfen Sie Ihre laufenden Anfechtungsprozesse jetzt und achten Sie darauf, dass dieses neue BGH-Urteil den unteren Instanzen zur Kenntnis gebracht wird.

Meine Kanzlei ist auf die Abwehr von Anfechtungsansprüchen spezialisiert und berät Sie gern, auch bei der Rückforderung bereits freiwillig gezahlter Leistungen.

Hier finden Sie das Urteil BGH, IX ZR 72/20 vom 06.05.2021 im Original:

https://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=8b5e186568aee869890e380f97ac4d03&nr=119863&pos=0&anz=1

Und hier § 133 n.F. InsO:

https://www.gesetze-im-internet.de/inso/__133.html

Bonn, den 08.07.2021

Rechtsanwältin Barbara Brenner