BGH: Inkasso-Sammelklagen auch für Auslandsforderungen zulässig

Bundesgerichtshof bestätigt Zulässigkeit einer „Inkasso-Sammelklage“ auch für Fälle ausländischen Rechts („Dieselaffäre“, Schweizer Käufer)

Urteil vom 13. Juni 2022 – VIa ZR 418/21

Nachdem der BGH in seinem Grundsatzurteil vom 13.07.2021 – II ZR 84/20 – bereits entschieden hatte, dass ein Inkassodienstleister sich wirksam Schadensersatzforderungen abtreten lassen kann, um diese dann als sog. „Inkasso-Sammelklage“ für eigene Rechnung vor Gericht durchzusetzen, hat der BGH heute entschieden, dass nicht einmal eine gesonderte Zulassung nach § 10 Abs. 1 Ziff. 3 RDG („Rechtsdienstleistungen in einem ausländischen Recht“) benötigt wird.

Sachverhalt:

Die Plattform „MyRight.de“, ein Produkt der Financialright GmbH mit Sitz in Berlin hatte in Braunschweig für 2.500 geschädigte Schweizer Käufer von Dieselfahrzeugen mit Abschaltvorrichtung Klage gegen VW eingereicht. Die Klägerin ist eine im Inland ansässige GmbH. Sie ist eine nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) registrierte Inkassodienstleisterin. Als sachkundige Person hatte sie einen Rechtsanwalt beschäftigt.

Ende 2016 hatte sie sich von ca. 2.500 Schweizer Staatsbürgern mit Wohnsitz in der Schweiz deren angebliche Forderungen gegenüber der VW AG aufgrund einer Mängelgewährleistung wegen einer unzulässigen Abschaltvorrichtung (Stichwort „Dieselaffäre“) abtreten lassen. Zwischen den Parteien war jeweils vereinbart, dass die Inkasso-Dienstleisterin die Forderungen zunächst außergerichtlich geltend machen sollte. Im Falle des Scheiterns der außergerichtlichen Geltendmachung sollte die Klägerin die Ansprüche im eigenen Namen gerichtlich geltend machen, wobei ihr im Erfolgsfall eine Provision in Höhe von 35 % zukommen sollte. Der Käufer und Zedent wurde im Gegenzug von sämtlichen Kosten der Rechtsverfolgung freigestellt. Die Regressforderung beläuft sich demnach auf insgesamt ca. 100 Mio.€.

Das Instanzgericht hatte den vorliegenden Fall abgetrennt. Der Sachverhalt ist weitgehend mit dem der anderen Käufer identisch:

Der Zedent des abgetrennten Verfahrens hatte im Februar 2015 in der Schweiz von einer Schweizer Vertragshändlerin einen VW Tiguan mit Erstzulassung 2015 gekauft. Der Vertrag unterlag unstreitig schweizerischem Recht. In das Fahrzeug war ein Dieselmotor der Baureihe EA 189 eingebaut. Der Motor war mit einer Software ausgestattet, die erkannte, ob das Fahrzeug auf einem Prüfstand dem Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) unterzogen wurde. In diesem Fall schaltete sie vom regulären Abgasrückführungsmodus 0 in einen Stickoxid-optimierten Abgasrückführungsmodus 1 (Prüfstanderkennungssoftware). Es ergaben sich dadurch auf dem Prüfstand geringere Stickoxid-Emissionswerte als im normalen Fahrbetrieb. Das Kraftfahrt-Bundesamt bewertete diese Software als unzulässige Abschalteinrichtung und ordnete für die betroffenen Fahrzeuge einen Rückruf an. In der Schweiz erließ das Bundesamt für Straßen (ASTRA) im Oktober 2015 ein vorläufiges Zulassungsverbot für bestimmte Fahrzeuge mit Dieselmotoren der Baureihe EA 189, von dem das Fahrzeug des Zedenten allerdings nicht betroffen war. Der Käufer ließ Ende 2016 ein Software-Update der VW AG aufspielen.

Mit der – abgetrennten – Einzelklage wurde die VW AG auf Zahlung eines der Höhe nach in das Ermessen des Gerichts gestellten Betrags, mindestens jedoch CHF 5.394 (15% des Kaufpreises als Minderwert) zuzüglich Zinsen ab Übergabe des Fahrzeugs, in Anspruch genommen.

Bisheriger Prozessverlauf:

Landgericht und Oberlandesgericht Braunschweig hatten die Klage abgewiesen.

Das OLG war der Ansicht, der Klägerin fehle die Aktivlegitimation. Die Klägerin habe für die Geltendmachung der Forderung, die dem Schweizer Recht unterfalle, eine Erlaubnis nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RDG („Rechtsdienstleistungen in einem ausländischen Recht“) benötigt. Tatsächlich habe sie aber lediglich eine Erlaubnis für „Inkassodienstleistungen nach § 2 Abs. 2 Satz 1 RDG“ („Forderungseinziehung“) besessen.

Folge des Fehlens der Erlaubnis nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RDG sei, dass die Klägerin durch ihr Tätigwerden gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz verstoßen habe. Dieser Verstoß führe zur Nichtigkeit des Dienstleistungsvertrags mit dem Zedenten sowie zur Nichtigkeit der Forderungsabtretung selbst. Die Revision wurde zugelassen.

Entscheidung des Bundesgerichtshofs:

Der Bundesgerichtshof hat der Auffassung der Inkassodienstleisterin Recht gegeben. Aus einer am Wortlaut, an der Systematik und an Sinn und Zweck des Rechtsdienstleistungsgesetzes sowie an der Gesetzgebungsgeschichte orientierten Auslegung ergebe sich, so der BGH, dass ein Inkassodienstleister mit der Erlaubnis für den „Forderungseinzug“ (§ 10 Abs. 1 Ziff. 1 iVm § 2 Abs. 2 RDG) keiner weiteren Erlaubnis nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RDG bedürfe, und zwar auch dann nicht, wenn die Forderungen, die er außergerichtlich geltend macht, einem ausländischem Recht unterfallen.

Damit hat der Bundesgerichtshof die Entscheidungen des VIII. Zivilsenats vom 27. November 2019 (VIII ZR 285/18, BGHZ 224, 89, vgl. Pressemitteilung Nr. 153/2019) und des II. Zivilsenats vom 13. Juli 2021 (II ZR 84/20, BGHZ 230, 255, vgl. Pressemitteilung Nr. 127/2021) bestätigt und auf Auslandssachverhalte ausgedehnt.

Darüber hinaus hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass eine zusätzliche Erlaubnis nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RDG zur Erreichung des Schutzzwecks des Rechtsdienstleistungsgesetzes in Fällen wie diesen nicht erforderlich ist.

Weil die Auffassung des Oberlandesgerichts, der Klägerin fehle die Aktivlegitimation, schon allein deswegen rechtsfehlerhaft war, hat der Bundesgerichtshof das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Das Berufungsgericht wird sich nunmehr mit der inhaltlichen Berechtigung der Forderung des Zedenten zu befassen haben.

Vorinstanzen:

Landgericht Braunschweig – Urteil vom 30. April 2020 – 11 O 3092/19

Oberlandesgericht Braunschweig – Urteil vom 7. Oktober 2021 – 8 U 40/21

Die einschlägigen Vorschriften des Gesetzes über außergerichtliche Rechtsdienstleistungen (RDG) lauten wie folgt:

„§ 2 Begriff der Rechtsdienstleistung

  1. Rechtsdienstleistung ist, unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen des Absatzes 1, die Einziehung fremder oder zum Zweck der Einziehung auf fremde Rechnung abgetretener Forderungen, wenn die Forderungseinziehung als eigenständiges Geschäft betrieben wird, einschließlich der auf die Einziehung bezogenen rechtlichen Prüfung und Beratung (Inkassodienstleistung). Abgetretene Forderungen gelten für den bisherigen Gläubiger nicht als fremd.

 

„§ 10 Rechtsdienstleistungen aufgrund besonderer Sachkunde

(1) Natürliche und juristische Personen …, die bei der zuständigen Behörde registriert sind (registrierte Personen), dürfen aufgrund besonderer Sachkunde Rechtsdienstleistungen in folgenden Bereichen erbringen:

  1. Inkassodienstleistungen (§ 2 Abs. 2 Satz 1),
  2. […]
  3. Rechtsdienstleistungen in einem ausländischen Recht; ist das ausländische Recht das Recht eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, darf auch auf dem Gebiet des Rechts der Europäischen Union und des Rechts des Europäischen Wirtschaftsraums beraten werden.

Forderungsabtretung und Durchsetzung von Gläubigerrechten als Inkassodienstleistung nach Insolvenz von Air Berlin zulässig

Urteil vom 13. Juli 2021 – II ZR 84/20

Der II. Zivilsenat hat heute entschieden, dass ein sogenanntes Sammelklage-Inkasso zulässig ist. In dem vorliegenden Fall wurden Gläubigerrechte, hier die Schadensersatzansprüche aus der Geschäftsführerhaftung wegen Insolvenzverschleppung (§ 15b InsO, früher: § 64 GmbHG), an das klagende Inkassounternehmen abgetreten und von diesem – gegen Provision – im Wege einer „Sammel“-Klage gerichtlich geltend gemacht.

Zu klären war hier zunächst die Frage, ob die Klage zulässig war, d.h., ob das Inkassounternehmen berechtigt war, sich Forderungen abtreten zu lassen und diese gegen Provision gerichtlich geltend zu machen.

Der BGH hat diese Befugnis dem Grundsatz nach bejaht, zur Provision allerdings keine Aussage getroffen. Eine Provisionsnahme ist Anwälten bislang nicht erlaubt.

Sachverhalt und Prozessverlauf:

Die Klägerin, eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, ist als Rechtsdienstleisterin für Inkassodienstleistungen (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 RDG) registriert. Auf einer von ihr betriebenen Webseite warb sie dafür, Ansprüche gegen die zwischenzeitlich insolvente Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG auf Rückzahlung des Flugpreises gesammelt über sie geltend zu machen. Den Kunden sollten keine Kosten entstehen, die Klägerin im Erfolgsfall 35% der Nettoerlöse aus dem Forderungseinzug erhalten.

Aus abgetretenem Recht hat die Klägerin Schadensersatzansprüche von insgesamt sieben Kunden gegen den ehemaligen Geschäftsleiter der Air Berlin eingeklagt, da er verspätet Insolvenzantrag gestellt habe (Insolvenzverschleppung, Geschäftsführerhaftung, § 15b InsO). Die Kunden haben zwischen Mai und Juli 2017 Flüge bei Air Berlin gebucht und bezahlt, die aufgrund der Insolvenz nicht mehr durchgeführt wurden.

Die Klage ist in beiden Vorinstanzen erfolglos geblieben. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren in vollem Umfang weiter.

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs:

Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass die hier zu beurteilende Tätigkeit der Klägerin von ihrer Befugnis gedeckt ist, Inkassodienstleistungen zu erbringen. Vom Inkassobegriff der § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 2 Abs. 2 Satz 1 RDG werden Geschäftsmodelle miterfasst, die ausschließlich oder vorrangig auf eine gerichtliche Einziehung der Forderung abzielen. Dies gilt auch für das sogenannte Sammelklage-Inkasso, bei dem mehrere Forderungen gesammelt und gebündelt gerichtlich geltend gemacht werden.

Weder dem Wortlaut noch der Systematik der § 1 Abs. 1 Satz 1, § 3 RDG lässt sich entnehmen, dass solche Inkassoformen keine zulässigen Rechtsdienstleistungen sind. Bei einer am Schutzzweck des Rechtsdienstleistungsgesetzes, die Rechtssuchenden, den Rechtsverkehr und die Rechtsordnung vor unqualifizierten Rechtsdienstleistungen zu schützen, orientierten Würdigung erfasst der Begriff der Inkassodienstleistung unter Berücksichtigung der Berufsausübungsfreiheit des Inkassodienstleisters (Art. 12 Abs. 1 GG) auch Inkassomodelle, die ausschließlich oder vorrangig auf die gerichtliche Einziehung von Forderungen abzielen, selbst wenn dazu eine Vielzahl von Einzelforderungen gebündelt werden.

Der Klägerin ist ihre Tätigkeit auch nicht wegen der Unvereinbarkeit mit einer anderen Leistungspflicht nach § 4 RDG verboten. Ein Interessenkonflikt, der eine entsprechende Anwendung des § 4 RDG auf den vorliegenden Fall rechtfertigen könnte, liegt nicht vor.

Da der Klägerin mit dem Sammelklage-Inkasso kein Verstoß gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz zur Last fiel, war die zwischen den Kunden von Air Berlin und der Klägerin vereinbarte Abtretung wirksam. Der Bundesgerichtshof hat deshalb das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an das Kammergericht in Berlin zurückverwiesen, damit weitere Feststellungen zum Bestehen der mit der Klage geltend gemachten Ansprüche wegen Insolvenzverschleppung nachgeholt werden können.

Das Urteil in der Entscheidungssammlung des BGH als PDF: Urteil des II. Zivilsenats vom 13.7.2021 – II ZR 84/20

Die maßgeblichen Vorschriften lauten:

  • 1 Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) – Anwendungsbereich

(1) 1Dieses Gesetz regelt die Befugnis, in der Bundesrepublik Deutschland außergerichtliche Rechtsdienstleistungen zu erbringen. 2Es dient dazu, die Rechtsuchenden, den Rechtsverkehr und die Rechtsordnung vor unqualifizierten Rechtsdienstleistungen zu schützen.

[…]

  • 2 RDG – Begriff der Rechtsdienstleistung

(1) Rechtsdienstleistung ist jede Tätigkeit in konkreten fremden Angelegenheiten, sobald sie eine rechtliche Prüfung des Einzelfalls erfordert.

(2) 1Rechtsdienstleistung ist, unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen des Absatzes 1, die Einziehung fremder oder zum Zweck der Einziehung auf fremde Rechnung abgetretener Forderungen, wenn die Forderungseinziehung als eigenständiges Geschäft betrieben wird (Inkassodienstleistung). […]

  • 3 RDG – Befugnis zur Erbringung außergerichtlicher Rechtsdienstleistungen

Die selbständige Erbringung außergerichtlicher Rechtsdienstleistungen ist nur in dem Umfang zulässig, in dem sie durch dieses Gesetz oder durch oder aufgrund anderer Gesetze erlaubt wird.

  • 4 Unvereinbarkeit mit einer anderen Leistungspflicht

Rechtsdienstleistungen, die unmittelbaren Einfluss auf die Erfüllung einer anderen Leistungspflicht haben können, dürfen nicht erbracht werden, wenn hierdurch die ordnungsgemäße Erbringung der Rechtsdienstleistung gefährdet wird.

  • 10 RDG Rechtsdienstleistungen aufgrund besonderer Sachkunde

(1) 1Natürliche und juristische Personen sowie Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit, die bei der zuständigen Behörde registriert sind (registrierte Personen), dürfen aufgrund besonderer Sachkunde Rechtsdienstleistungen in folgenden Bereichen erbringen:

  1. Inkassodienstleistungen (§ 2 Abs. 2 Satz 1),

[…]

Vorinstanzen:

Landgericht Berlin – Urteil vom 31. Juli 2019 – 26 O 355/18

Kammgericht – Urteil vom 3. April 2020 – 14 U 156/19

Quelle:

Mitteilung der Pressestelle des Bundesgerichtshofs vom 13. Juli 2021

Urteil v. 6.5.2021 – BGH leitet Kehrtwende im Anfechtungsrecht ein

Vermutungen, Indizien und fragwürdige Erfahrungssätze – das waren die Säulen, auf denen die Insolvenzanfechtung nach § 133 InsO seit nunmehr über 15 Jahren beruht. Für die Insolvenzverwalter bedeutete das leichtes Spiel: Zielüberschreitungen und mehrfache Zahlungsstockungen reichten aus, um das Inkasso von bis zu 10 Jahren zunichte zu machen. Erhebliche Zahlungen mussten zurückgezahlt werden, obwohl die Leistung vereinbarungsgemäß erbracht war. Der Grund dafür lag in der Vermutung, dass ein Schuldner, der seine Zahlungsunfähigkeit kennt, mit der Zahlung an einen Gläubiger den Ausfall anderer Gläubiger vorsätzlich in Kauf nahm. Vorsatz setzt aber (positive) Kenntnis von der eigenen Zahlungsunfähigkeit im Rechtssinne und die sichere Annahme von den gläubigerschädigenden Folgen voraus. „Kann sein, dass hier Gläubiger geschädigt werden, ich zahle meinen Lieferanten aber auf jeden Fall“ oder „Da passiert nix“, das sind die Testfragen, mit denen Vorsatz von Fahrlässigkeit abgegrenzt wird. Das hatte im Anfechtungsrecht aber nie stattgefunden. Ob der Schuldner die objektive Zahlungsunfähigkeit, also die Unbehebbarkeit des Mangels an Zahlungsmitteln, tatsächlich kannte, oder ob er nur von einer vorübergehenden Zahlungsstockung, also von einem behebbaren Zustand, ausgegangen war, wurde nie näher untersucht. Die Gerichte waren immer der Meinung, dass ein Schuldner, der zahlungsunfähig war, diesen Umstand auch zu kennen hatte. Ob er nur von einer vorübergehenden Zahlungsstockung ausging, ob er die Definition des BGH überhaupt kannte (Unterdeckung von 10 % der fälligen Forderungen reicht aus), oder ob er von der betriebswirtschaftlichen Definition ausgegangen war (Liquidität 1., 2. und 3. Grades), das wurde nie untersucht. Ob dem Schuldner bewusst war, dass andere Gläubiger durch die konkrete Zahlung tatsächlich endgültig ausfallen werden, auch das wurde nie untersucht. Der Vorsatz des Schuldners war deshalb für die Anfechtungsgegner bisher kaum zu widerlegen.

Auch bei der Kenntnis des Geschäftspartners von diesem (angeblichen) Vorsatz war der BGH bisher sehr apodiktisch:

Zielüberschreitungen, Ratenzahlungsbitten, Vollstreckungsversuche, all das reichte als Indikator für eine Zahlungseinstellung aus; damit hatte der Geschäftspartner gleichzeitig Kenntnis von dem Vorsatz des Schuldners und wurde zur Rückzahlung von sämtlichen Zahlungseingängen aus dem Inkasso verurteilt.

Meine Kanzlei hatte in allen Anfechtungsprozessen die Meinung vertreten, dass es auf den Empfängerhorizont ankommt, auf die Gepflogenheiten im Geschäftsverkehr, vor allem aber auf die internen Mahn- und Insolvenzstatistiken ihrer Mandanten und die überwiegend positiven Erfahrungswerte mit Ratenzahlungsvereinbarungen in der Branche. Zu Recht, wie sich jetzt herausstellt:

Mit Urteil vom 6.5.2021 – IX ZR 72/20 – hat der BGH nun – in neuer und jüngerer Besetzung – ein Urteil des Landgerichts Bonn aufgehoben, weil weder der Vorsatz ausreichend dargelegt wurde noch ausreichende Indikatoren für eine Kenntnis des Zahlungsempfängers von diesem angeblichen Vorsatz vorhanden waren.

Mit diesem Urteil bestätigt der BGH seine neue Linie, von pauschalen Vermutungen abzurücken und auf das konkrete Bewusstsein des Schuldners und auch des Anfechtungsgegners abzustellen. Bereits im Jahr 2019 hatte der BGH vorsichtig begonnen, das Bewusstsein des Schuldners näher untersuchen zu lassen (BGH-Urteile IX ZR 238/18, 258/18, 259/18 und 264/18). Daran könne es fehlen, so der BGH, wenn der Schuldner sich vorgestellt hatte, durch die Zahlungen werde das Vermögen des Unternehmens künftig angereichert, etwa durch Ausgleichszahlungen aus der Urlaubskasse der SOKA-Bau. In dem Fall 264/18 war der Schuldner möglicherweise davon ausgegangen, dass sein Guthaben unpfändbar war und der künftigen Masse also gar nicht zuzurechnen war. Die Rechtsstreitigkeiten wurden jeweils an die Ursprungsgerichte zur näheren Aufklärung zurückverwiesen. So jetzt auch in dem Fall des LG Bonn.

Der BGH hat diese Tendenz jetzt aber nicht nur im Hinblick auf den fehlenden Vorsatz des Schuldners verfestigt: Auch im Hinblick auf die Erkenntnismöglichkeiten des Geschäftspartners und Zahlungsempfängers stellt der BGH jetzt erstmalig klar, dass es insoweit auf den Erkenntnishorizont des Anfechtungsgegners ankommt. Hierzu muss natürlich vorgetragen werden.

Und last but not least:

Eine nur drohende Zahlungsunfähigkeit ist kein geeigneter Indikator für einen Gläubigerbenachteiligungsvorsatz!

Damit wendet der BGH die Anfechtungsreform auch auf Alt-Fälle an, wonach die drohende Zahlungsunfähigkeit bei kongruenter Deckung nicht ausreichend ist (§ 133 Abs. 3 n.f. InsO).

Hier sind die Leitsätze:

a) Die Annahme der subjektiven Voraussetzungen der Vorsatzanfechtung kann nicht allein darauf gestützt werden, dass der Schuldner im Zeitpunkt der angefochtenen Rechtshandlung objektiv zahlungsunfähig ist.

b) Der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners setzt im Falle der erkannten Zahlungsunfähigkeit zusätzlich voraus, dass der Schuldner im maßgeblichen Zeitpunkt wusste oder jedenfalls billigend in Kauf nahm, seine übrigen Gläubiger auch künftig nicht vollständig befriedigen zu können; dies richtet sich nach den ihm bekannten objektiven Umständen.

c) Für den Vollbeweis der Kenntnis vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners muss der Anfechtungsgegner im Falle der erkannten Zahlungsunfähigkeit des Schuldners im maßgeblichen Zeitpunkt zusätzlich wissen, dass der Schuldner seine übrigen Gläubiger auch künftig nicht wird befriedigen können; dies richtet sich nach den ihm bekannten objektiven Umständen.

d) Auf eine im Zeitpunkt der angefochtenen Rechtshandlung nur drohende Zahlungsunfähigkeit kann der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners in der Regel nicht gestützt werden.

e) Eine besonders aussagekräftige Grundlage für die Feststellung der Zahlungseinstellung ist die Erklärung des Schuldners, aus Mangel an liquiden Mitteln nicht zahlen zu können; fehlt es an einer solchen Erklärung, müssen die für eine Zahlungseinstellung sprechenden sonstigen Umstände ein der Erklärung entsprechendes Gewicht erreichen.

f) Stärke und Dauer der Vermutung für die Fortdauer der festgestellten Zahlungseinstellung hängen davon ab, in welchem Ausmaß die Zahlungsunfähigkeit zutage getreten ist; dies gilt insbesondere für den Erkenntnishorizont des Anfechtungsgegners.

Der Erkenntnishorizont des Anfechtungsgegners ist damit zum zentralen Element der Vorsatzanfechtung geworden. Sämtliche Anfechtungsprozesse, die noch nicht entschieden sind, müssen jetzt auf diese Rechtsprechung eingestellt werden.

Diese Kehrtwende in der BGH-Rechtsprechung war angekündigt worden, aber sie war wohl erst durch einen Personalwechsel im Senat möglich geworden.

Künftig dürfen noch weitere Änderungen erwartet werden, etwa bei der Annahme, die Geschäftstätigkeit des Schuldners sei bereits für sich genommen ein ausreichender Indikator für die Benachteiligung anderer Gläubiger. Diese Logik hat sich mir nie erschlossen. Insbesondere Stromlieferanten, Verbundgruppen, Einkaufsgenossenschaften etc. machen regelmäßig die Erfahrung, dass ihre Forderungen die größten Einzelforderungen sind, dass sie deshalb vorrangig um Warenkredit gebeten werden, wogegen die übrige Geschäftstätigkeit des Schuldners störungsfrei abläuft.

Durch dieses neue, wegweisende Urteil des BGH wird es den Insolvenzverwaltern künftig nicht mehr gelingen, redlich verdiente Zahlungsrückläufe über Jahre hinweg mit einem Zweizeiler erfolgreich anzugreifen.

Bitte überprüfen Sie Ihre laufenden Anfechtungsprozesse jetzt und achten Sie darauf, dass dieses neue BGH-Urteil den unteren Instanzen zur Kenntnis gebracht wird.

Meine Kanzlei ist auf die Abwehr von Anfechtungsansprüchen spezialisiert und berät Sie gern, auch bei der Rückforderung bereits freiwillig gezahlter Leistungen.

Hier finden Sie das Urteil BGH, IX ZR 72/20 vom 06.05.2021 im Original:

https://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=8b5e186568aee869890e380f97ac4d03&nr=119863&pos=0&anz=1

Und hier § 133 n.F. InsO:

https://www.gesetze-im-internet.de/inso/__133.html

Bonn, den 08.07.2021

Rechtsanwältin Barbara Brenner