BGH hält Prämienerhöhungen von privaten Krankenversicherungen nur bedingt für unwirksam

Prämienerhöhungen aufgrund von § 8b MB/KK 2009 bleiben zwar grundsätzlich wirksam; Privatversicherte können aber künftig verlangen, dass der Versicherer nachweist, dass die Veränderung der Kalkulationsgrundlage nicht nur vorübergehender Natur ist.

Karlsruhe, den 22.06.2022 – Der für das Versicherungsvertragsrecht zuständige IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat heute entschieden, dass Prämienerhöhungen einer privaten Krankenversicherung nach § 8b Abs. 1 MB/KK 2009 (Musterbedingungen 2009 des Verbandes der privaten Krankenversicherungen) in Verbindung mit den Tarifbedingungen zu § 8b Abs. 1 MB/KK 2009 wirksam sind. Nach diesen Vorschriften ist eine Erhöhung möglich, wenn ein Vergleich der erforderlichen mit den kalkulierten Versicherungsleistungen eine Abweichung von 5 % über dem tariflich festgelegten Prozentsatz ergeben hat, während § 203 VV einen Schwellenwert von 10 % verlangt. Nach § 155 Abs. 3 Satz 2 VVG ist es den Versicherern erlaubt, auch einen niedrigeren als den in § 203 VVG festgelegten Schwellenwert festzusetzen, solange die Veränderung der Kalkulationsgrundlagen der Versicherungen wie

– gestiegene Gesundheitskosten,

– gestiegene individuelle Inanspruchnahme

und

-gestiegenes Lebensalter

nicht nur vorübergehender Natur sind. Davon hatte der private Krankenversicherer Gebrauch gemacht. Über die Zulässigkeit der Abweichung von der gesetzlichen Norm (5 % Schwellenwert statt 10 %) äußern sich weder § 155 VVG noch der BGH.

Das Landgericht Köln hatte die Klage eines Versicherten gegen diverse Prämienerhöhungen abgewiesen, das Oberlandesgericht Köln hatte der Klage aber zum Teil stattgegeben und die beklagte Privatversicherung zumindest teilweise zur Rückzahlung von Prämienanteilen verurteilt. Es hatte zum einen bemängelt, dass mehrere Prämienerhöhungen bereits wegen einer unzureichenden Begründung in den Mitteilungsschreiben nicht wirksam geworden seien (dies kann aber nachgeholt werden); weitere Prämienanpassungen hat es dagegen für endgültig unwirksam gehalten, weil die Beitragsanpassungsklausel des § 8b Abs. 1 und 2 der MB/KK insgesamt unwirksam sei.

Der BGH hat dies nicht bestätigt. Unwirksam sei nur der Abs. 2 dieser Klausel, weil er eine Prämienerhöhung auch bei einem nur vorübergehenden Anstieg de Kalkulationsgrundlagen ermöglicht, und weil er sie vor allem ins Belieben der Versicherung stelle („kann davon absehen“), wogegen Erhöhungen aufgrund eines nur vorübergehenden Anstiegs der Kalkulationsgrundlagen nach § 203 VVG gesetzlich ausgeschlossen seien. Von dieser Unwirksamkeit werde aber Abs. 1 der Klausel nicht erfasst. Dieser Absatz erlaube Prämienerhöhungen im Allgemeinen, sei deshalb aus sich heraus verständlich und könne auch ohne die Anordnungen des Abs. 2 selbständig bestehen bleiben. Demnach besteht nach den allgemeinen Grundsätzen der AGB-Klauselkontrolle kein Grund, die Unwirksamkeit eines Teils der Klausel auf die gesamte Klausel des § 8b MB/KK auszudehnen. Die Prämienerhöhungen waren demnach materiell gerechtfertigt, so der BGH.

Da das Oberlandesgericht zu den formellen Voraussetzungen der Prämienerhöhungen noch keine Feststellungen getroffen hatte, wurde das Urteil aufgehoben. Der Rechtstreit wurde zur weiteren Aufklärung an das OLG Köln zurückverwiesen, welches jetzt noch prüfen muss, ob die formellen Voraussetzungen für die Prämienerhöhungen erfüllt waren.

Privat Versicherte können künftig also verlangen, dass die private Versicherung nachweist, dass die Änderungen der Kalkulationsgrundlage nicht nur vorübergehender Natur sind, denn der Umstand der Nachhaltigkeit („bei einer nicht nur als vorübergehend anzusehenden Veränderung“) ist nach § 203 VVG Tatbestandsvoraussetzung für die Erhöhung.

https://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2022/2022095.html?nn=10690868

Vorinstanzen:

OLG Köln – Urteil vom 22. September 2020 – 9 U 237/19

LG Köln – Urteil vom 18. September 2019 – 23 O 392/18

Die maßgeblichen Vorschriften lauten:

§ 203 VVG

(2) Ist bei einer Krankenversicherung das ordentliche Kündigungsrecht des Versicherers gesetzlich oder vertraglich ausgeschlossen, ist der Versicherer bei einer nicht nur als vorübergehend anzusehenden Veränderung einer für die Prämienkalkulation maßgeblichen Rechnungsgrundlage berechtigt, die Prämie entsprechend den berichtigten Rechnungsgrundlagen auch für bestehende Versicherungsverhältnisse neu festzusetzen, sofern ein unabhängiger Treuhänder die technischen Berechnungsgrundlagen überprüft und der Prämienanpassung zugestimmt hat. … Für die Änderung der Prämien, Prämienzuschläge und Selbstbehalte sowie ihre Überprüfung und Zustimmung durch den Treuhänder gilt § 155 in Verbindung mit einer auf Grund des § 160 des Versicherungsaufsichtsgesetzes erlassenen Rechtsverordnung.

§ 155 Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG)

(3) Das Versicherungsunternehmen hat für jeden nach Art der Lebensversicherung kalkulierten Tarif zumindest jährlich die erforderlichen mit den kalkulierten Versicherungsleistungen zu vergleichen. Ergibt die der Aufsichtsbehörde und dem Treuhänder vorzulegende Gegenüberstellung für einen Tarif eine Abweichung von mehr als 10 Prozent, sofern nicht in den allgemeinen Versicherungsbedingungen ein geringerer Prozentsatz vorgesehen ist, hat das Unternehmen alle Prämien dieses Tarifs zu überprüfen und, wenn die Abweichung als nicht nur vorübergehend anzusehen ist, mit Zustimmung des Treuhänders anzupassen. …

§ 8b MB/KK 2009

(1) Im Rahmen der vertraglichen Leistungszusage können sich die Leistungen des Versicherers z.B. wegen steigender Heilbehandlungskosten, einer häufigeren Inanspruchnahme medizinischer Leistungen oder aufgrund steigender Lebenserwartung ändern. Dementsprechend vergleicht der Versicherer zumindest jährlich für jeden Tarif die erforderlichen mit den in den technischen Berechnungsgrundlagen kalkulierten Versicherungsleistungen und Sterbewahrscheinlichkeiten. Ergibt diese Gegenüberstellung für eine Beobachtungseinheit eines Tarifs eine Abweichung von mehr als dem gesetzlich oder tariflich festgelegten Vomhundertsatz, werden alle Beiträge dieser Beobachtungseinheit vom Versicherer überprüft und, soweit erforderlich, mit Zustimmung des Treuhänders angepasst. …

(2) Von einer Beitragsanpassung kann abgesehen werden, wenn nach übereinstimmender Beurteilung durch den Versicherer und den Treuhänder die Veränderung der Versicherungsleistungen als vorübergehend anzusehen ist.

Tarifbedingungen zu § 8b Abs. 1 MB/KK 2009

Ergibt die Gegenüberstellung nach Absatz 1 Satz 2 bei den Versicherungsleistungen eine Abweichung von mehr als 10 %, werden alle Beiträge dieser Beobachtungseinheit vom Versicherer überprüft und, soweit erforderlich, mit Zustimmung des Treuhänders angepasst; bei einer Abweichung von mehr als 5 % können alle Beiträge dieser Beobachtungseinheit vom Versicherer überprüft und, soweit erforderlich, mit Zustimmung des Treuhänders angepasst werden.

Karlsruhe, den 22.06.2022 – Der für das Versicherungsvertragsrecht zuständige IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat heute entschieden, dass Prämienerhöhungen in der privaten Krankenversicherung nach § 8b Abs. 1 MB/KK 2009 (Musterbedingungen 2009 des Verbandes der privaten Krankenversicherung; i.F.: MB/KK) in Verbindung mit den Tarifbedingungen zu § 8b Abs. 1 MB/KK 2009 wirksam sind. Nach dieser Vorschrift ist eine Erhöhung möglich, wenn ein Vergleich der erforderlichen mit den kalkulierten Versicherungsleistungen eine Abweichung von 5 % über dem tariflich festgelegten Prozentsatz ergeben hat, während § 203 VV einen Schwellenwert von 10 % verlangt. Diese Klausel sei wirksam, so der BGH, weil den Versicherern nach § 155 Abs. 3 Satz 2 VVG erlaubt ist, auch einen niedrigeren Schwellenwert festzusetzen, und der private Krankenversicherer davon lediglich Gebrauch gemacht hat. Über die zulässige Höhe der Abweichung von der gesetzlichen Norm äußern sich weder § 255 VVG noch der BGH.

Das Landgericht Köln hatte die Klage eines Versicherten gegen diverse Prämienerhöhungen abgewiesen, das Oberlandesgericht Köln hatte der Klage aber z.T. stattgegeben und die beklagte Privatversicherung zur teilweisen Rückzahlung von Prämienanteilen verurteilt. Das Oberlandesgericht hat zum einen gerügt, dass mehrere Prämienerhöhungen bereits wegen einer unzureichenden Begründung in den Mitteilungsschreiben nicht wirksam geworden seien; weitere Prämienanpassungen hat es dagegen für endgültig unwirksam gehalten, weil die Beitragsanpassungsklausel in § 8b Abs. 1 und 2 MB/KK unwirksam sei.

Der BGH hat dies nicht bestätigt. Zwar sei § 8b Abs. 2 MB/KK unwirksam, weil er eine Prämienerhöhung auch bei nur vorübergehenden Kostensteigerungen ermöglicht, und sie vor allem ins Belieben der Versicherung stelle („kann davon absehen“), wogegen sie nach § 203 VVG ausgeschlossen sei; allerdings werde dadurch nicht auch Absatz 1 der Klausel unwirksam, sodass  Prämienerhöhungen grundsätzlich möglich bleiben, so der BGH. Die Höhe des Schwellenwertes richte sich nach der Tarifbindung, die er insoweit nicht für angreifbar hält.

Da das Oberlandesgericht zu den Voraussetzungen der Tariferhöhung noch keine Feststellungen getroffen hatte, wurde das Urteil aufgehoben und der Rechtstreit zur wieteren Aufklärung an das OLG Köln zurück verwiesen, welches jetzt zu prüfen haben wird, ob die Kostenerhöhungen im Gesundheitswesen tatsächlich zu einer Abweichung der kalkulierten zu den tatsächlichen Aufwendungen führen und der Schwellenwert von 5 % deshalb überschritten ist.

https://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2022/2022095.html?nn=10690868

Vorinstanzen:

OLG Köln – Urteil vom 22. September 2020 – 9 U 237/19

LG Köln – Urteil vom 18. September 2019 – 23 O 392/18

Die maßgeblichen Vorschriften lauten:

§ 203 VVG

(2) Ist bei einer Krankenversicherung das ordentliche Kündigungsrecht des Versicherers gesetzlich oder vertraglich ausgeschlossen, ist der Versicherer bei einer nicht nur als vorübergehend anzusehenden Veränderung einer für die Prämienkalkulation maßgeblichen Rechnungsgrundlage berechtigt, die Prämie entsprechend den berichtigten Rechnungsgrundlagen auch für bestehende Versicherungsverhältnisse neu festzusetzen, sofern ein unabhängiger Treuhänder die technischen Berechnungsgrundlagen überprüft und der Prämienanpassung zugestimmt hat. … Für die Änderung der Prämien, Prämienzuschläge und Selbstbehalte sowie ihre Überprüfung und Zustimmung durch den Treuhänder gilt § 155 in Verbindung mit einer auf Grund des § 160 des Versicherungsaufsichtsgesetzes erlassenen Rechtsverordnung.

§ 155 Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG)

(3) Das Versicherungsunternehmen hat für jeden nach Art der Lebensversicherung kalkulierten Tarif zumindest jährlich die erforderlichen mit den kalkulierten Versicherungsleistungen zu vergleichen. Ergibt die der Aufsichtsbehörde und dem Treuhänder vorzulegende Gegenüberstellung für einen Tarif eine Abweichung von mehr als 10 Prozent, sofern nicht in den allgemeinen Versicherungsbedingungen ein geringerer Prozentsatz vorgesehen ist, hat das Unternehmen alle Prämien dieses Tarifs zu überprüfen und, wenn die Abweichung als nicht nur vorübergehend anzusehen ist, mit Zustimmung des Treuhänders anzupassen. …

§ 8b MB/KK 2009

Im Rahmen der vertraglichen Leistungszusage können sich die Leistungen des Versicherers z.B. wegen steigender Heilbehandlungskosten, einer häufigeren Inanspruchnahme medizinischer Leistungen oder aufgrund steigender Lebenserwartung ändern. Dementsprechend vergleicht der Versicherer zumindest jährlich für jeden Tarif die erforderlichen mit den in den technischen Berechnungsgrundlagen kalkulierten Versicherungsleistungen und Sterbewahrscheinlichkeiten. Ergibt diese Gegenüberstellung für eine Beobachtungseinheit eines Tarifs eine Abweichung von mehr als dem gesetzlich oder tariflich festgelegten Vomhundertsatz, werden alle Beiträge dieser Beobachtungseinheit vom Versicherer überprüft und, soweit erforderlich, mit Zustimmung des Treuhänders angepasst. …

Von einer Beitragsanpassung kann abgesehen werden, wenn nach übereinstimmender Beurteilung durch den Versicherer und den Treuhänder die Veränderung der Versicherungsleistungen als vorübergehend anzusehen ist.

Tarifbedingungen zu § 8b Abs. 1 MB/KK 2009

Ergibt die Gegenüberstellung nach Absatz 1 Satz 2 bei den Versicherungsleistungen eine Abweichung von mehr als 10 %, werden alle Beiträge dieser Beobachtungseinheit vom Versicherer überprüft und, soweit erforderlich, mit Zustimmung des Treuhänders angepasst; bei einer Abweichung von mehr als 5 % können alle Beiträge dieser Beobachtungseinheit vom Versicherer überprüft und, soweit erforderlich, mit Zustimmung des Treuhänders angepasst werden.

BGH: Inkasso-Sammelklagen auch für Auslandsforderungen zulässig

Bundesgerichtshof bestätigt Zulässigkeit einer „Inkasso-Sammelklage“ auch für Fälle ausländischen Rechts („Dieselaffäre“, Schweizer Käufer)

Urteil vom 13. Juni 2022 – VIa ZR 418/21

Nachdem der BGH in seinem Grundsatzurteil vom 13.07.2021 – II ZR 84/20 – bereits entschieden hatte, dass ein Inkassodienstleister sich wirksam Schadensersatzforderungen abtreten lassen kann, um diese dann als sog. „Inkasso-Sammelklage“ für eigene Rechnung vor Gericht durchzusetzen, hat der BGH heute entschieden, dass nicht einmal eine gesonderte Zulassung nach § 10 Abs. 1 Ziff. 3 RDG („Rechtsdienstleistungen in einem ausländischen Recht“) benötigt wird.

Sachverhalt:

Die Plattform „MyRight.de“, ein Produkt der Financialright GmbH mit Sitz in Berlin hatte in Braunschweig für 2.500 geschädigte Schweizer Käufer von Dieselfahrzeugen mit Abschaltvorrichtung Klage gegen VW eingereicht. Die Klägerin ist eine im Inland ansässige GmbH. Sie ist eine nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) registrierte Inkassodienstleisterin. Als sachkundige Person hatte sie einen Rechtsanwalt beschäftigt.

Ende 2016 hatte sie sich von ca. 2.500 Schweizer Staatsbürgern mit Wohnsitz in der Schweiz deren angebliche Forderungen gegenüber der VW AG aufgrund einer Mängelgewährleistung wegen einer unzulässigen Abschaltvorrichtung (Stichwort „Dieselaffäre“) abtreten lassen. Zwischen den Parteien war jeweils vereinbart, dass die Inkasso-Dienstleisterin die Forderungen zunächst außergerichtlich geltend machen sollte. Im Falle des Scheiterns der außergerichtlichen Geltendmachung sollte die Klägerin die Ansprüche im eigenen Namen gerichtlich geltend machen, wobei ihr im Erfolgsfall eine Provision in Höhe von 35 % zukommen sollte. Der Käufer und Zedent wurde im Gegenzug von sämtlichen Kosten der Rechtsverfolgung freigestellt. Die Regressforderung beläuft sich demnach auf insgesamt ca. 100 Mio.€.

Das Instanzgericht hatte den vorliegenden Fall abgetrennt. Der Sachverhalt ist weitgehend mit dem der anderen Käufer identisch:

Der Zedent des abgetrennten Verfahrens hatte im Februar 2015 in der Schweiz von einer Schweizer Vertragshändlerin einen VW Tiguan mit Erstzulassung 2015 gekauft. Der Vertrag unterlag unstreitig schweizerischem Recht. In das Fahrzeug war ein Dieselmotor der Baureihe EA 189 eingebaut. Der Motor war mit einer Software ausgestattet, die erkannte, ob das Fahrzeug auf einem Prüfstand dem Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) unterzogen wurde. In diesem Fall schaltete sie vom regulären Abgasrückführungsmodus 0 in einen Stickoxid-optimierten Abgasrückführungsmodus 1 (Prüfstanderkennungssoftware). Es ergaben sich dadurch auf dem Prüfstand geringere Stickoxid-Emissionswerte als im normalen Fahrbetrieb. Das Kraftfahrt-Bundesamt bewertete diese Software als unzulässige Abschalteinrichtung und ordnete für die betroffenen Fahrzeuge einen Rückruf an. In der Schweiz erließ das Bundesamt für Straßen (ASTRA) im Oktober 2015 ein vorläufiges Zulassungsverbot für bestimmte Fahrzeuge mit Dieselmotoren der Baureihe EA 189, von dem das Fahrzeug des Zedenten allerdings nicht betroffen war. Der Käufer ließ Ende 2016 ein Software-Update der VW AG aufspielen.

Mit der – abgetrennten – Einzelklage wurde die VW AG auf Zahlung eines der Höhe nach in das Ermessen des Gerichts gestellten Betrags, mindestens jedoch CHF 5.394 (15% des Kaufpreises als Minderwert) zuzüglich Zinsen ab Übergabe des Fahrzeugs, in Anspruch genommen.

Bisheriger Prozessverlauf:

Landgericht und Oberlandesgericht Braunschweig hatten die Klage abgewiesen.

Das OLG war der Ansicht, der Klägerin fehle die Aktivlegitimation. Die Klägerin habe für die Geltendmachung der Forderung, die dem Schweizer Recht unterfalle, eine Erlaubnis nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RDG („Rechtsdienstleistungen in einem ausländischen Recht“) benötigt. Tatsächlich habe sie aber lediglich eine Erlaubnis für „Inkassodienstleistungen nach § 2 Abs. 2 Satz 1 RDG“ („Forderungseinziehung“) besessen.

Folge des Fehlens der Erlaubnis nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RDG sei, dass die Klägerin durch ihr Tätigwerden gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz verstoßen habe. Dieser Verstoß führe zur Nichtigkeit des Dienstleistungsvertrags mit dem Zedenten sowie zur Nichtigkeit der Forderungsabtretung selbst. Die Revision wurde zugelassen.

Entscheidung des Bundesgerichtshofs:

Der Bundesgerichtshof hat der Auffassung der Inkassodienstleisterin Recht gegeben. Aus einer am Wortlaut, an der Systematik und an Sinn und Zweck des Rechtsdienstleistungsgesetzes sowie an der Gesetzgebungsgeschichte orientierten Auslegung ergebe sich, so der BGH, dass ein Inkassodienstleister mit der Erlaubnis für den „Forderungseinzug“ (§ 10 Abs. 1 Ziff. 1 iVm § 2 Abs. 2 RDG) keiner weiteren Erlaubnis nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RDG bedürfe, und zwar auch dann nicht, wenn die Forderungen, die er außergerichtlich geltend macht, einem ausländischem Recht unterfallen.

Damit hat der Bundesgerichtshof die Entscheidungen des VIII. Zivilsenats vom 27. November 2019 (VIII ZR 285/18, BGHZ 224, 89, vgl. Pressemitteilung Nr. 153/2019) und des II. Zivilsenats vom 13. Juli 2021 (II ZR 84/20, BGHZ 230, 255, vgl. Pressemitteilung Nr. 127/2021) bestätigt und auf Auslandssachverhalte ausgedehnt.

Darüber hinaus hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass eine zusätzliche Erlaubnis nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RDG zur Erreichung des Schutzzwecks des Rechtsdienstleistungsgesetzes in Fällen wie diesen nicht erforderlich ist.

Weil die Auffassung des Oberlandesgerichts, der Klägerin fehle die Aktivlegitimation, schon allein deswegen rechtsfehlerhaft war, hat der Bundesgerichtshof das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Das Berufungsgericht wird sich nunmehr mit der inhaltlichen Berechtigung der Forderung des Zedenten zu befassen haben.

Vorinstanzen:

Landgericht Braunschweig – Urteil vom 30. April 2020 – 11 O 3092/19

Oberlandesgericht Braunschweig – Urteil vom 7. Oktober 2021 – 8 U 40/21

Die einschlägigen Vorschriften des Gesetzes über außergerichtliche Rechtsdienstleistungen (RDG) lauten wie folgt:

㤠2 Begriff der Rechtsdienstleistung

  1. Rechtsdienstleistung ist, unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen des Absatzes 1, die Einziehung fremder oder zum Zweck der Einziehung auf fremde Rechnung abgetretener Forderungen, wenn die Forderungseinziehung als eigenständiges Geschäft betrieben wird, einschließlich der auf die Einziehung bezogenen rechtlichen Prüfung und Beratung (Inkassodienstleistung). Abgetretene Forderungen gelten für den bisherigen Gläubiger nicht als fremd.

 

㤠10 Rechtsdienstleistungen aufgrund besonderer Sachkunde

(1) Natürliche und juristische Personen …, die bei der zuständigen Behörde registriert sind (registrierte Personen), dürfen aufgrund besonderer Sachkunde Rechtsdienstleistungen in folgenden Bereichen erbringen:

  1. Inkassodienstleistungen (§ 2 Abs. 2 Satz 1),
  2. […]
  3. Rechtsdienstleistungen in einem ausländischen Recht; ist das ausländische Recht das Recht eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, darf auch auf dem Gebiet des Rechts der Europäischen Union und des Rechts des Europäischen Wirtschaftsraums beraten werden.

Kölner Stadtarchiv-Prozess: Richter waren befangen, Urteil aufgehoben.

Prozess geplatzt: Bundesgerichtshof hebt Verurteilung eines mit der Bauaufsicht befassten Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung im Zusammenhang mit den Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln auf

Beschluss vom 13. Oktober 2021 – 2 StR 418/19

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat.

Nach den Feststellungen des Gerichts kam es am 3. März 2009 zu dem Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln sowie zweier benachbarter Wohngebäude, bei dem zwei Menschen zu Tode kamen. Ursache hierfür war zur Überzeugung der Strafkammer die Havarie einer im Zuge eines Großbauprojekts in der Nähe der Gebäude ausgehobenen Baugrube, deren seitliche Umschließung zuvor nur unzureichend erstellt worden war, so dass am Unglückstag insbesondere Erdreich von unterhalb des Stadtarchivs innerhalb kurzer Zeit in die Baugrube abgeflossen war. Der Angeklagte war auf Seiten der Bauherrin damit betraut, die Tätigkeit der bauausführenden Arbeitsgemeinschaft zu kontrollieren. Nach den Wertungen des Landgerichts kam er seiner Aufgabe jedoch nur unzureichend nach und schritt bei der mangelhaften Erstellung der Baugrubenumschließung nicht ein.

Auf eine Verfahrensrüge des Strafverteidigers des Angeklagten hin hat der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs das Urteil aufgehoben, weil die Richter der Strafkammer bei Abfassung der Urteilsgründe bereits kraft eines gesetzlichen Verbots an der Ausübung des Richteramts in dem vorliegenden Prozess waren. Die Sache wurde an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Die Richter der Strafkammer wurden nach der mündlichen Verkündung des Urteils noch in einem Parallelprozess vor einer anderen Strafkammer als Zeugen zum selben Tatgeschehen vernommen. Sie waren von da an gem. § 22 StPO  von der weiteren Ausübung des Richteramtes in der vorliegenden Sache ausgeschlossen und waren deswegen daran gehindert, die – bis dahin noch nicht erfolgte – Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe vorzunehmen.

Auf die durch den Angeklagten ebenfalls erhobene Sachrüge kam es daher nicht mehr an.

Der BGH hat damit klargestellt, dass § 22 StPO nicht nur auf eine zeugenschaftliche Vernehmung zur Sache in der eigenen Rechtssache beschränkt ist, sondern dass er auch dann zur Anwendung kommt, wenn der/die Richter+innen in einem Parallelprozess zum selben Sachverhalt als Zeugen geladen sind und aussagen. Der Prozess dürfte nicht mehr zu retten sein, denn mit der rechtzeitigen Abfassung der – rechtskomformen – Urteilsgründe durch die verwiesene Kammer ist nicht mehr zu rechnen. Die verweisene Kammer kann vielmehr überhaupt keine Urteilsgründe mehr abfassen, weil deren Richter+innen den Prozess nicht begleitet hatten, und ein Urteil nur aus eigener Wahrnehmung der Richter+innen abgefasst werden darf. Der Prozess muss daher vollkommen neu „aufgerollt“ werden. In Anbetracht der relativ milden Strafe kommt hier aber eine Verständigung mit der Staatsanwaltschaft (sog. „deal“) über eine Einstellung gegen Auflagen in Betracht.

Die maßgeblichen Vorschriften der Strafprozessordnung lauten wie folgt:

  • § 22 StPO – Ausschließung von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes

Ein Richter ist von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen,[…]

  1. wenn er in der Sache als Zeuge oder Sachverständiger vernommen ist.
  • § 275 Absetzungsfrist und Form des Urteils

Ist das Urteil mit den Gründen nicht bereits vollständig in das Protokoll aufgenommen worden, so ist es unverzüglich zu den Akten zu bringen. Dies muß spätestens fünf Wochen nach der Verkündung geschehen; diese Frist verlängert sich, wenn die Hauptverhandlung länger als drei Tage gedauert hat, um zwei Wochen, und wenn die Hauptverhandlung länger als zehn Tage gedauert hat, für jeden begonnenen Abschnitt von zehn Hauptverhandlungstagen um weitere zwei Wochen. Nach Ablauf dieser Frist dürfen die Urteilsgründe nicht mehr geändert werden. Die Frist darf nur überschritten werden, wenn und solange das Gericht durch einen im Einzelfall nicht voraussehbaren unabwendbaren Umstand an ihrer Einhaltung gehindert worden ist. Der Zeitpunkt, zu dem das Urteil zu den Akten gebracht ist, und der Zeitpunkt einer Änderung der Gründe müssen aktenkundig sein.

[…]

  • § 338 Absolute Revisionsgründe

Ein Urteil ist stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen,

[…]

  1. wenn das Urteil keine Entscheidungsgründe enthält oder diese nicht innerhalb des sich aus § 275 Abs. 1 Satz 2 und 4 ergebenden Zeitraums zu den Akten gebracht worden sind;

[…]

Vorinstanz:

Landgericht Köln – Urteil vom 12. Oktober 2018 – 110 KLs 9/17

Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zur Impf-Nachweispflicht für Pflegepersonal (sog. „einrichtungs- und unternehmensbezogene Impfnachweispflicht“)

Mit seinem Beschluss vom 27. April 2022 – 1 BvR 2649/21 – hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts die Einführung einer besonderen Impflicht für Ärzt+innen und Pflegepersonal durch die neu eingeführten Vorschriften der § 20a, § 22a und § 73 Abs. 1a Nr. 7e bis 7h des Infektionsschutzgesetzes (IfSG, früher: Bundesseuchengesetz) für verfassungsmäßig erklärt. Demnach sind bestimmte Einrichtungen und Unternehmen des Gesundheitswesens und der Pflege ab sofort verpflichtet, den Gesundheitsämtern eine COVID-19- Schutzimpfung, eine Genesung von der COVID-19-Krankheit oder eine medizinische Kontraindikation gegen eine Impfung für ihr Personal nachzuweisen (sogenannte „einrichtungs- und unternehmensbezogene Nachweispflicht“).

Auch wenn man einer generellen Impfpflicht grundsätzlich deutlich positiv gegenübersteht, wie die Verfasserin, muss man bei einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Beschluss zu dem Ergebnis kommen, dass das BVerfG bei seiner Überprüfung der Verhältnismäßigkeit dieser besonderen Impfpflicht deutlich hinter seinen Möglichkeiten zurückgeblieben ist. Kritisch sieht die Verfasserin insbesondere

  • dass der Schutz der Patienten mit der Impfpflicht nur mäßig verbessert werden kann, Lücken sind also eingeplant,
  • dass die Impfrisiken nicht gegen den mäßigen Mehrwert abgewogen wurden, und
  • dass die Prüfung von PCR-Tests für ungeimpftes Personal als milderes Mittel bei gleichzeitig erheblich besserer Eignung zu oberflächlich vorgenommen wurde.

Sachverhalt:

Nach § 20a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 IfSG müssen Personen, die in bestimmten Einrichtungen oder Unternehmen des Gesundheitswesens und der Pflege tätig sind, seit Ablauf des 15. März 2022 der jeweiligen Einrichtungs- oder Unternehmensleitung einen Nachweis darüber vorlegen, vollständig gegen COVID-19 geimpft oder davon genesen zu sein. Ausgenommen sind nur Personen mit einer medizinischen Kontraindikation. Wird kein ordnungsgemäßer Nachweis vorgelegt, hat die Einrichtungs- oder Unternehmensleitung unverzüglich das Gesundheitsamt zu benachrichtigen. Dieses kann dann gegenüber den betroffenen Personen nach § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG ein Betretungs- oder Tätigkeitsverbot verfügen.

Personen, die erst ab dem 16. März 2022 in den in § 20a IfSG genannten Einrichtungen oder Unternehmen tätig werden sollen, haben vor Beginn ihrer Tätigkeit einen entsprechenden Nachweis vorzulegen. Andernfalls dürfen sie dort weder beschäftigt noch tätig werden. Verschiedene Einzelregelungen des § 20a IfSG sind bußgeldbewehrt (vgl. § 73 Abs. 1a Nr. 7e bis 7h IfSG).

20a IfSG und die zugehörigen Bußgeldregelungen treten zum 1. Januar 2023 – also mitten in der nächsten Welle – wieder außer Kraft (wenn sie nicht verlängert werden!)

Begründung:

Das Bundesverfassungsgericht ist der Meinung, die angegriffenen Vorschriften verletzten die Beschwerdeführer+innen nicht unverhältnismäßig in ihren Rechten, insbesondere in ihren Freiheitsrechten aus Art. 2 Abs. 2, Satz 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG. Die Verfassungsrichter+innen haben zwar durchaus gesehen, dass die Regelungen in die genannten Grundrechte eingreifen, und zwar durchaus auch erheblich; sie waren aber – sachverständig beraten – der Meinung, dass diese Eingriffe verfassungsrechtlich gerechtfertigt seien, weil sie verhältnismäßig seien.

Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ergibt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip nach Art. 19 Abs. 4 GG. Demnach sind Grundrechtseingriffe stets darauf zu prüfen, ob sie

  • geeignet sind,
  • ein legitimes, d.h. verfassungsgemäßes Ziel des Staates zu erreichen,
  • und ob sie erforderlich sind, d.h. ob kein milderes Mittel mit gleicher Effizienz zur Verfügung steht.

Selbstverständlich sind auch die Wertigkeiten der betroffenen, sich gegenüberstehenden Werte und die Tiefe des Grundrechtseingriffs zu bewerten. Dabei darf z.B. der Kernbereich eines Grundrechts niemals angetastet werden. Das ist bei der Impfpflicht aber auch nicht der Fall.

Das Gericht hat eine Vielzahl von Sachverständigen Institutionen „angehört“, z.B.

  • das RKI – Rz. 50 ff,
  • das für die Zulassung und Sicherheit von Impfstoffen zuständige Paul-Ehrlich-Institut (PEI) (Rz 53 ff),
  • die Bundesärztekammer – Rz. 56ff,
  • die Ärztinnen und Ärzte für individuelle Impfentscheidung – Rz 58f,
  • die Deutsche Gesellschaft für Epidemiologie (DGEpi) und das Helmholtz-Institut für Infektionsforschung (HZI) – Rz 60f,
  • die Deutsche Gesellschaft für Infektiologie – Rz 62,
  • die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) – Rz 64,
  • die Deutsche Gesellschaft für Virologie (GfV) – Rz. 65f,

Sämtliche Institutionen haben bestätigt, dass ältere Patienten mit und hne Vorerkrankungen besonders empfindlich und häufiger mit schweren Verläufen auf eine Infektion mit SARS-COV 19 reagieren als jüngere Menschen. Sie haben aber auch bestätigt, dass es trotz der Impfung zu einer Neu-Infektion mit einer – teils sogar hohen – Belastung mit Viren kommen kann, die Kontagiosität also durch die Impfung nicht ausgeschlossen wird. Allerdings sei der Zeitraum der Kontagiosität kürzer.

Keine Institution hat sich zur Gefahrenlage potenzieller Impfschäden für die Betroffenen geäußert. Es ist deshalb anzunehmen, dass eine entsprechende Frage auch gar nicht gestellt wurde.

Bei der Frage, ob inwieweit PCR-Tests ein gleich – oder sogar besser – geeignetes Mittel zur Verhinderung der Ansteckung sind, hat das Gericht sich des Weiteren ausschließlich auf die – relativ betagten – Feststellungen in der Gesetzesbegründung (BTDrucks. 20/188, S. 37) sowie auf ein Bulletin des RKI (Epidemiologisches Bulletin 17/21, S. 15) und 2 Lageberichte des RKI vom 2. und 9. Dezember 2021 zurückgezogen.

Das Gericht führt zu PCR-Tests als Alternative wörtlich aus:

Rz. 194:

„Insoweit sind PCR-Tests zwar zuverlässiger und zeigen eine Infektion bereits in einem früheren Infektionsstadium an. Verpflichtende PCR-Tests im Gesundheits-, Pflege- und Betreuungsbereich wären gleichwohl kein gleich geeignetes Mittel. So ist schon nicht gesichert, dass die hierfür notwendigen Testkapazitäten vorhanden sind. Nach Einschätzung des Robert Koch-Instituts (vgl. Wöchentliche Lageberichte vom 2. und 9. Dezember 2021, jeweils S. 27) arbeiteten die Labore schon bei Verabschiedung des Gesetzes teilweise an den Grenzen ihrer Auslastung. Dies ließ konkret besorgen, dass sie schon Anfang Dezember 2021 kaum mehr verlässlich eine zügige Testauswertung ermöglichen konnten.“

Rz. 195:

„Der Gesetzgeber durfte aber auch berücksichtigen, dass sich eingeschränkte und zunehmend angespannte Laborkapazitäten nachteilig auf andere Lebensbereiche auswirken können, in denen sich Personen testen lassen müssen. Ungeachtet dessen wären der zeitliche und organisatorische Aufwand sowie die Kosten von zwei bis drei wöchentlichen PCR-Tests immens, was – ebenso wie ein Ausbau der Testkapazitäten – mit einer erheblichen Belastung der Allgemeinheit einherginge. Der ganz überwiegenden Zahl der im Gesundheits-, Pflege- und Betreuungsbereich Tätigen könnten die entstehenden Kosten auch kaum auferlegt werden.“

und schließlich Rz. 196:

„Letztlich ist aber auch das Zeitfenster zwischen einer PCR-Testung und dem vorliegenden Testergebnis zu beachten. Denn die Dauer von der Infektion bis zum Beginn der eigenen Ansteckungsfähigkeit (Infektiosität) lässt sich nicht für jeden Einzelfall verlässlich bestimmen. Denkbar sind auch sehr kurze Intervalle bis zum Beginn der Ansteckungsfähigkeit, denn eine Ansteckung anderer Personen ist schon am Tag nach der eigenen Infektion oder sogar am selben Tag möglich (vgl. RKI, Epidemiologischer Steckbrief zu SARS-CoV-2 und COVID-19, Stand: 26. November 2021). Daher kann eine Person selbst nach einer negativen PCR-Testung infektiös sein, weil sie sich jederzeit nach der Probenentnahme infizieren kann.“

Der Gesetzgeber habe damit im Rahmen des ihm zustehenden Einschätzungsspielraums einen angemessenen Ausgleich zwischen den betroffenen Rechtsgütern gefunden. Trotz der hohen Eingriffsintensität müssen die grundrechtlich geschützten Interessen der im Gesundheits- und Pflegebereich tätigen Beschwerdeführer+innen letztlich zurücktreten, so das Bundesverfassungsgericht.

Wenngleich anzuerkennen ist, dass die Verfassungsrichter+innen auf 85 Seiten ein Lehrstück für die Abwägung von Grundrechtseingriffen abgeliefert haben, so sind sie bei der Ermittlung des Sachverhalts doch überraschend weit hinter ihren Möglichkeiten zurückgeblieben.

Demnach beruht die Entscheidung vor allem darauf,

  1. dass mit PCR-Tests, die anerkanntermaßen eine höhere Sicherheit für die Patienten bieten, kein gleich oder besser geeignetes und weniger belastendes Mittel zur Verfügung steht,

und auf der Annahme,

  1. dass potenzielle Impfnebenwirkungen und Impfschäden als selten und grds. beherrschbar eingestuft wurden,

ad 1. – PCR-Tests als besser geeignetes Mittel

Das BVerfG hält PCR-Tests zwar auch für geeigneter, geht aber davon aus, dass die Laborkapazitäten nicht ausreichend zur Verfügung stehen und die Kosten im Übrigen unverhältnismäßig seien.

Der Umstand, dass PCR-Tests nicht als adäquate Alternative angesehen wurden, hätte aber einer weiteren Untersuchung bedurft:

  1. Zunächst enthält der Beschluss keinerlei Informationen darüber, wie hoch die vorhandenen Laborkapazitäten tatsächlich sind bzw. bei Verabschiedung des Gesetzes waren, und wie, bis wann und mit welchem Kostenaufwand sie ausgebaut werden könnten. Zum Zeit- und Kostenaufwand für den Ausbau der Laborkapazitäten sowie eventuelles Einsparpotenzial enthält der Beschluss keinerlei Informationen.
  2. Wenn andere Lebensbereiche, in denen diese Tests derzeit ebenfalls durchgeführt werden, eventuell vernachlässigt werden müssten, muss zunächst ermittelt werden, welche das sind, ob die Tests dort ebenso notwendig sind, welche Gefahren für die Allgemeinheit mit einem Wegfall konkret verbunden wären, ob man diese anders auffangen kann und ggfls., wie lange die Konkurrenzsituation andauern würde.
  3. Das Zeit-Gap zwischen Test und Testergebnis kann entschärft werden, wenn man die PCR-Tests jeweils NACH der Schicht durchführt, denn bis zum Beginn der neuen Schicht kann das Ergebnis bereits vorliegen, und die Gefahr, dass sich inzwischen eine kontagiöse Virenlast aufgebaut hat, scheint in dieser Zeit genauso hoch (bzw. niedrig) zu sein wie beim geimpften Personal. Den Vergleich zum geimpften Personal hat das Gericht insoweit versäumt.

Erst wenn zuverlässige Informationen hierzu vorliegen und die Effizienz von besser geeigneten Alternativ-Maßnahmen mit milderem Eingriff geprüft wurde, kann man den Grundrechtseingriff gegen das gesetzgeberische Ziel seriös abwägen.

Neu war für mich vor allem, dass das Gericht – soweit ersichtlich erstmalig – die Kostenbelastung eines besser geeigneten Mittels (PCR-Tests für das ungeimpfte Pflegepersonal) gegen den Grundrechtseingriff und die damit verbundenen Gefahren für die Gesundheit der Impfpflichtigen als höherwertig eingestuft hat.

Auch die Frage, bei wem die Kostenlast anfallen könnte, wurde nicht ausreichend geklärt. In Betracht kommt z.B. die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW). Diese hat nicht nur die Kosten für Unfallfolgen von Patienten in der Klinik zu decken, sondern auch die von Berufserkrankungen des Pflegepersonals und der Ärzt+innen. Es ist daher sachgerecht, ihr auch die Vermeidungskosten aufzuerlegen, zumal die Beiträge von den Einrichtungen bezahlt werden und die BGW nicht gerade an einer Knappheit von Mitteln leidet. Außerdem hätte eine Verteilung der Kostenlast auf die GKVen, die PKVen, den Fiskus und die BGW in Betracht gezogen werden können.

Da die Ansteckungsgefahr durch die Impfpflicht letztlich auch keinesfalls beseitigt, sondern nur reduziert wird, steht das Verhältnismäßigkeitsprinzip also nach wie vor in Frage.

ad 2. – Impfrisiken

Mit der Abwägung der Impfnebenwirkungen setzt sich der Beschluss zu Rzn. 222 – 227 auseinander. Das BVerfG hat sich dabei auf den Sicherheitsbericht des PEI vom 26.10.2021 verlassen. Demnach wurde nur bei 78 der im Zeitraum vom 27.12.2020 bis 30.09.2021 gemeldeten 1.919 Todesfall-Verdachtsmeldungen ein Zusammenhang mit der Impfung bescheinigt. Darauf und auf das Perikarditis- und Allergierisiko hätten die StIKO und die Ärzteverbände aber reagiert und die Impfempfehlung und die (Kontra-)Indikationskriterien entsprechend angepasst. Nicht erwähnt wurde, dass es keine Meldepflicht gibt, und die gemeldeten Fälle daher zufällig, nicht repräsentativ und schon gar nicht vollständig sind.

Das BVerfG führt dazu aus:

Rz. 227:

„Steht daher zu erwarten, dass solche von fachkundigen Stellen zeitnah nach entsprechenden Verdachtsmeldungen getroffenen Vorkehrungen die ohnehin geringen Impfrisiken noch weiter reduzieren, und ist zudem zu berücksichtigen, dass die im Verhältnis zur Gesamtzahl verabreichter Impfdosen bereits relativ geringe Melderate nicht die tatsächlich eingetretenen Impfrisiken abbildet, weil bei weitem nicht bei jeder Verdachtsmeldung ein Kausalzusammenhang mit der Impfung gesichert ist, kann davon ausgegangen werden, dass entsprechende Nebenwirkungen oder gravierende Folgen ganz überwiegend nicht eintreten. Dies schließt zwar nicht jede außergewöhnliche Impfreaktion aus, was auch der Gesetzgeber schon ausweislich von § 2 Nr. 11, §§ 60 ff. IfSG nicht in Abrede stellt. Bei der abwägungsgeleiteten Gegenüberstellung grundrechtlich geschützter Belange der von § 20a Abs. 1 Satz 1 IfSG Betroffenen einerseits und der vulnerablen Personen andererseits ist es gleichwohl verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, sondern vielmehr geboten, dass der Gesetzgeber nicht nur die Möglichkeit außergewöhnlicher Impfreaktionen und gravierender Folgen als solche einbezogen, sondern sich auch mit deren Wahrscheinlichkeit unter fortlaufender Beobachtung durch fachkundige Stellen wie dem Paul-Ehrlich-Institut befasst hat.“

Übersetzt heißt das nichts weniger als

„Auch um eine nur mittelmäßige Verbesserung des Schutzes der Patienten zu erreichen, müssen Ärzt+innen und Pflegepersonal sich einem Gesundheits-Risiko aussetzen oder ihren Beruf aufgeben, weil uns bessere Maßnahmen (PCR-Tests) zu aufwändig erscheinen.“

Thesen:

  1. Nach den Feststellungen des BVerfG kann auch nicht geimpftes Personal die Infektion an die Patienten weitergeben. Dies kann letztlich nur durch PCR-Tests vermieden werden. Das Gericht hat zur Frage der Kapazitäten und der Kosten aber keine Datenlage angefragt und ist pauschal davon ausgegangen, die Kosten seien unverhältnismäßig. Das hätte einer genaueren Untersuchung bedurft, insbesondere zu den Fragen
    • wie hoch die vorhandenen Laborkapazitäten tatsächlich sind,
    • bis wann und mit welchem Kostenaufwand sie ggfls. ausgebaut werden könnten,
    • ob man die Kosten zwischen den GKV’en, den PKV‘en, dem Fiskus und der BG aufteilen könnte,
    • welche anderen andere Lebensbereiche von PCR-Tests in der Zwischenzeit entlastet werden könnten,
    • u. a.

 

  1. Durch die Vernachlässigung der PCR-Tests als Alternative zur Vermeidung von Ansteckungen in den Pflegeeinrichtungen hat die Bundesregierung ihren Gestaltungsspielraum bei der Eingrenzung der Gefahr für die Patienten durch das ärztliche und Pflegepersonal bei weitem nicht ausgeschöpft, denn

 

  1. Das Verfassungsgericht hätte alle Möglichkeiten gehabt, zum Ausbau oder zur Umschichtung der Laborkapazitäten weitere Daten zu verlangen, hat es aber nicht. Das Verfassungsgericht ist in diesem Punkt also weit hinter seinen Möglichkeiten zurückgeblieben. Ich persönlich hatte das Gericht bei Grundrechtseingriffen, die noch dazu mit nicht unerheblichen Gefahren für Leib und Leben der Betroffenen einhergehen können, als gründlicher in Erinnerung.

 

  1. Obwohl die Verfasserin als staatlich examinierte Krankenschwester Impfungen ausdrücklich befürwortet, ist die partielle Impfpflicht jedenfalls (noch) nicht grundrechtskonform gelungen; das Ziel, die Patienten ausreichend zu schützen, wird durch die partielle Impfpflicht allein mit Sicherheit verfehlt.

 

  1. Insbesondere, wenn man den Nebeneffekt einkalkuliert, dass bis zur Beendigung der Maßnahme am 31.12.2022 noch weniger Pflegepersonal am Krankenbett arbeiten wird, und weitere Menschen sich aus Enttäuschung aus dem Beruf zurückziehen wird, darf diese Maßnahme als kontraproduktiv und als politischer Aktionismus und Missgriff eingestuft werden.

Fazit für die Kliniken und Pflegeeinrichtungen:

Unabhängig von einer gesetzlichen Impfpflicht schulden die Kliniken ihren Patienten aus dem Behandlungsvertrag den bestmöglichen Schutz vor Ansteckung. Da der Einsatz von geimpftem Personal ohne PCR-Tests aber unstreitig nur mittelmäßigen Schutz bietet und durchaus Lücken lässt, reicht es möglicherweise vertragsrechtlich gar nicht aus, allein auf Impfung + Maske abzustellen. Aus dem Behandlungsvertrag folgt deshalb möglicherweise sowieso die Pflicht, tägliche PCR-Tests für alle, auch für das geimpfte Personal, anzuordnen. Es ist nicht sicher, ob der BGH in Haftungssachen allein die Kosten für solche Tests als ausreichend ansehen wird, Dispens zu erteilen und die Patienten weiterhin ganz bewusst einer nicht unerheblichen Gefahr der Ansteckung auszusetzen. Die Klinken sind deshalb gut beraten, sich Laborkapazitäten zu sichern; die Aufgabe der Kliniklobbyisten ist es, dafür zu sorgen, dass die Kosten hierfür gesetzlich den GKV’en und PKV‘en, dem Fiskus und/oder der BGW auferlegt oder unter allen aufgeteilt werden.

Das, und eine 5-jährige Befreiung von der Lohnsteuerpflicht (!), wären Ausdruck einer Anerkennung des Pflegeberufes und könnten – zusammen mit flexiblen Arbeitszeiten und fröhlichen Tages- und Nachteinrichtungen für die Kinder der Ärzt+innen, Schwestern und Pfleger – dafür sorgen, dass qualifiziertes ärztliches und Pflegepersonal wieder in die Kliniken zurückströmt und wieder Freude am Beruf entwickelt. Die Entscheidung des Gesetzgebers und der Beschluss des BVerfG tragen jedenfalls nicht dazu bei.

EHV Bonn bestellt RA’in Brenner zur Vertragsanwältin für Insolvenzrecht

Bonn, den 05.05.2022 – Ich freue mich mitteilen zu dürfen, dass der #Einzelhandelsverband Bonn-Rhein/Sieg-Euskirchen mich zur Vertragsanwältin für Insolvenzrecht bestellt hat. Ich bin damit beauftragt, die Mitglieder des Verbands in allen Fragen zum Insolvenzrecht zu beraten, z.B.:

  1. bei der Forderungsanmeldung: Die Forderungsanmeldung und Überwachung der Insolvenztabelle führen wir im Auftrag des EHV für die Mitglieder kostenlos durch (die Gebühren trägt der EHV),
  2. bei der Durchsetzung Ihres Eigentumsvorbehalts und anderer Kreditsicherheiten unterstützen und vertreten wir Sie (auf die Gebühren erhalten Sie als EHV-Mitglied einen Rabatt von 10 %),
  3. ebenso bei der Vorbeugung und Abwehr von Insolvenzanfechtungen,
  4. bei der Weiterbelieferung vor und nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens,
  5. bei der Identifizierung und Korrektur toxischer AGB-Klauseln
  6. und v.a.m.

Außerdem beraten wir Sie zu den Besonderheiten bei

  1. Eigenverwaltung,
  2. CovInsAG und
  3. außergerichtlichem Restrukturierungsverfahren (StaRUG)

Die Erstberatung ist für die Mitglieder kostenlos; der Verband übernimmt die Gebühr für seine Mitglieder. Falls ein Mandat zur Vertretung erteilt wird, erhalten Mitglieder einen gesonderten EHV-Rabatt in Höhe von 10 % auf die Gebühren.

Ich freue mich auf die Zusammenarbeit!

https://www.ehvbonn.de/der-verband/ihre-vorteile/

BGH: Weiteres Urteil zur Vorsatzanfechtung

Karlsruhe, 24.02.2022 – Zum Vorsatz im Anfechtungsrecht

Beim Vorsatz muss man genau hinschauen, denn:

„Beim Vorsatz verbietet sich jegliche Spekulation“.

zit.: BGH in Strafsachen, 4 StR 399-17 („Raser-Urteil I“), zur Ermittlung des dolus eventualis beim Täter

Diese Rechtsposition hatte die Verfasserin bereits mehrfach in ihren Vorträgen zum Anfechtungsrecht beim FORUM Institut für Management im Jahr 2018 in Frankfurt/M. und zuletzt bei der ZIP-Tagung des Otto-Schmidt-Verlags im Jahr 2021 vertreten. Offenbar ist nunmehr auch der BGH in Insolvenzsachen dieser Meinung. Wie schön!

Die Verteidigung eines Anfechtungsgegners gegen eine Vorsatzanfechtung ist herausfordernd, aber nicht aussichtslos. Insbesondere wenn es um den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners geht, der zwingende Voraussetzung für die Anfechtung nach § 133 Abs. 1 InsO ist, kämpft der Gläubiger auf unbekanntem Terrain, denn dazu kann er schlicht gar nichts sagen. Gleichwohl ist die Feststellung des (fehlenden) Vorsatzes für den Gläubiger essentiell. Denn ohne Vorsatz keine Kenntnis vom Vorsatz und somit auch keine Anfechtung beim Gläubiger. Es ist deshalb die einzige Aufgabe des Verteidigers, darauf zu achten, dass der Vorsatz korrekt ermittelt und nicht wild herumspekuliert wird.

Der BGH hat sich jetzt ein weiteres Mal zu den Voraussetzungen an den Schuldnervorsatz im Rahmen einer Anfechtung nach § 133 Abs. 1 InsO geäußert:

Die Zahlungsunfähigkeit stellt nur dann ein Indiz für den Benachteiligungsvorsatz dar, wenn der Schuldner seine Zahlungsunfähigkeit erkannt hat“ heißt es in Tenor 1 des Urteils vom 24.02.2022 – IX ZR 250/20.

https://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=2022-2&nr=127541&pos=4&anz=150

Damit mit stellt der BGH nochmals ausdrücklich klar, dass die Kenntnis des Schuldners von seiner Zahlungsunfähigkeit nicht einfach vermutet werden darf. Es muss vielmehr bewiesen werden, dass er ein entsprechendes Bewusstsein auch tatsächlich HATTE. HÄTTE HABEN MÜSSEN reicht nicht. Damit baut der IX. Zivilsenat seine Rechtsprechung aus dem Urteil vom 6.5.2021 – IX ZR 72/20 – weiter aus. Es war immer schon klar, dass ein Vorsatz beim Schuldner nur dann angenommen werden kann, wenn dieser zahlungsunfähig war und seine Zahlungsunfähigkeit auch kannte. Das ist insofern also nichts Neues. Neu ist allerdings, dass der BGH diese Kenntnis jetzt hinterfragt und somit verlangt, dass die Verwalter zu allen Vorsatzelementen konkret vortragen, und zwar sowohl zum kognitiven (Wissens-) als auch zum voluntativen (Wollens-)Element. Das war bisher nicht notwendig. Der gängigen Auffassung etlicher Untergerichte, wonach Kenntnis HAT, wer sie ZU HABEN HAT, wird hier also eine Absage erteilt.

Dadurch wird gleichzeitig die Abgrenzung zur Haftung des Geschäftsführers nach § 15b InsO (früher: § 64 GmbHG) schärfer gezogen. Das Urteil des BGH vom 6.5.2021 wird von Verwalterseite scharf dafür kritisiert, dass einem Geschäftsführer, der nach § 15b InsO wegen Insolvenzverschleppung haften muss, bei der Anfechtung aber kein Vorsatz unterstellt werden darf. Das ist so aber nicht richtig:

Die Kritik übersieht dabei, dass die Anforderungen an die Haftung des Geschäftsführers nach § 15b InsO deutlich niedriger sind, denn hierfür reicht einfache Fahrlässigkeit aus, wogegen bei der Vorsatzanfechtung eine fahrlässige Handhabung der Dinge eben nicht ausreicht. Es musste  vielmehr vorsätzlich gehandelt worden sein, und zwar im Einvernehmen mit dem Gläubiger. Denn angefochten wird wegen Vorsatzes des Geschäftsführers ja nicht bei diesem, sondern beim Gläubiger! Dieser musste sich sozusagen mit dem Geschäftsführer gemein gemacht haben nach dem Motto, „Ich nehme das Geld, koste es die anderen Gläubiger, was es wolle.“

Die Haftung nach § 15b InsO greift also bereits ein, wenn der Geschäftsführer die Kenntnis von der Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft ZU HABEN HATTE. Das reicht bei einer Vorsatzanfechtung aber eben nicht aus. Diese greift erst dann ein, wenn er sie auch tatsächlich GEHABT HATTE. Wenn der GF die Kenntnis also tatsächlich HATTE, greift sowohl der § 15b InsO als auch der § 133 Abs. 1 InsO (letzterer natürlich nur, wenn die zusätzlichen, gläubigerseitigen Voraussetzungen vorliegen). Umgekehrt: Wenn er die Kenntnis nur ZU HABEN HATTE, ist er im Bereich der (groben) Fahrlässigkeit unterwegs, was für eine Haftung nach § 15b InsO ausreicht, für eine Vorsatzanfechtung dagegen nicht. Es gibt sicherlich eine Grauzone, z.B. wenn der GF „angestrengt wegschaut“, etwa weil er damit rechnet, dass die liquiden Mittel dauerhaft notleidend sind und auch bleiben werden. Wer wegschaut, damit er nicht sieht, was er schon weiß, der kann natürlich mit mangelnder Bewusstseinsbildung nicht gehört werden.

Mit der Entscheidung vom 24.02.2022 führt der BGH seine Rechtsprechung zu den Anforderungen an den Vorsatznachweis in Bezug auf die Kenntnis von der Zahlungsunfähigkeit nun fort.

Zunächst hatte der BGH nämlich nur das zweite Element des Schuldnervorsatzes überprüft, nämlich die Kenntnis von der gläubigerbenachteiligenden Wirkung seiner Zahlungen.

Beispiel:

  • BGH, Urt. v 12-09-2019, IX ZR 264-18 – ein unterhaltspflichtiger Schuldner meinte (irrig), er zahle den Unterhalt aus seinem pfändungsfreiem Einkommen. Der BGH meinte, dieser Irrtum könne darauf hinweisen, dass er kein Bewusstsein gehabt haben könnte, dass die Gläubiger geschädigt wurden, und wies die Sache zur weiteren Aufklärung zurück ans LG Lüneburg
  • BGH, Urt. v 18-07-2019, IX ZR 258-18, Urlaubskasse (1)
  • BGH, Urt. v 18-07-2019, IX ZR 259-18, Urlaubskasse (2)
  • BGH, Urt. v 21-11-2019, IX ZR 238-18, SOKA-Bau (Gegenleistungen)

In allen diesen vier Urteilen erkannte der BGH Anzeichen dafür, dass der Schuldner offenbar geglaubt hatte, durch die Zahlung von Rückständen und entsprechenden Kontenausgleich könne er später fällig werdende Ersatzleistungen (Ansprüche auf Ersatz von Urlaubsgeld u.a.) von einer Ersatzkasse generieren, wodurch die Abflüsse durch Zuflüsse wieder ausgeglichen würden. Obwohl im Anfechtungsrecht spätere Zuflüsse mit den anfechtbaren Abflüssen nicht saldiert werden dürften, so der BGH, bestünden doch erhebliche Zweifel an dem Bewusstsein des Schuldners, seine Gläubiger zu schädigen, und wies die Sachen zur weiteren Aufklärung jeweils zurück ans OLG Frankfurt/M. Der dortige „Spezialsenat“ hat überhaupt nichts dazu aufgeklärt, sondern den Hinweis des BGH als erwiesene Tatsache unterstellt und die Klagen insoweit abgewiesen. Von mir aus.

Mit Urteil vom 06.05.2021 – IX ZR 72/20 – hatte der BGH diese Rechtsprechung sodann weiter verfestigt:

„Tenor b)  Der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners setzt im Falle der erkannten Zahlungsunfähigkeit zusätzlich voraus, dass der Schuldner im maßgeblichen Zeitpunkt wusste oder jedenfalls billigend in Kauf nahm, seine übrigen Gläubiger auch künftig nicht vollständig befriedigen zu können; dies richtet sich nach den ihm bekannten objektiven Umständen.“

Neu war hier, dass diese Kenntnis sich auch auf die Zukunft beziehen muss, d.h. der GF musste gewusst haben, dass er die anderen Gläubiger voraussichtlich gar nicht mehr würde befriedigen können, und zwar nicht mehr nur binnen der Antragspflicht, also binnen 3 Wochen, sondern dauerhaft nicht. Hierfür müssen objektive Umstände herangezogen werden, die jeweils exakt zu ermitteln sind. Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen dieser Umstände und für die Kenntnis des Schuldners hiervon liegt beim Insolvenzverwalter.

Während die vorzitierten Urteile sich vorwiegend mit dem Bewusstsein des Schuldners über die Folgen seiner Zahlungen befassten, äußert der BGH sich in seinem Urteil vom 24.02.2022 nun zur Kenntnis des Schuldners von seiner eigenen Zahlungsunfähigkeit bzw. von der Zahlungsunfähigkeit seines Unternehmens:

Was war passiert?

Die Schuldnerin hatte turnusmäßig Lizenzgebühren in Höhe von € 15.000 an ihre Gesellschafterin bezahlt; im Nachhinein stellte sich jedoch heraus, dass die Schuldnerin durch Kündigung und Fälligstellung von Wandel-Darlehensforderungen anderer Gläubiger zu diesem Zeitpunkt tatsächlich bereits objektiv zahlungsunfähig geworden war. Der GF der Schuldnerin war bei Vornahme der Zahlung allerdings noch davon überzeugt, dass diese Forderungen vertraglich nicht durchsetzbar waren, weil für die Darlehen zum einen eine feste Laufzeit vereinbart war, und sie im Übrigen einem vertraglich vereinbarten, qualifizierten Rangrücktritt unterlagen.

In Nachhinein hatte sich offenbar erwiesen, dass er Unrecht hatte, und dass die Rückforderungen tatsächlich liquide waren.

Der BGH hat diese Situation so bewertet, dass der Geschäftsführer sich keinen Benachteiligungsvorsatz gebildet hatte, und zwar mit folgender Begründung:

Ob der Schuldner seine Zahlungsunfähigkeit erkannt hat, hängt in erster Linie davon ab, ob er die Tatsachen kennt, welche die Zahlungsunfähigkeit begründen, und ob die gesamten Umstände zwingend auf eine eingetretene Zahlungsunfähigkeit hinweisen. Hierzu muss der Schuldner nicht nur die Forderungen kennen, sondern auch deren Fälligkeit im Sinne des § 17 Abs. 2 Satz 1 InsO.

Hält der Schuldner eine Forderung, welche die Zahlungsunfähigkeit begründet, aus Rechtsgründen für nicht durchsetzbar oder nicht fällig, steht dies einer Kenntnis entgegen, sofern bei einer Gesamtwürdigung der Schluss auf die Zahlungsunfähigkeit nicht zwingend naheliegt (Verweis auf BGH, Urt. v. 19.02.2009 – IX ZR 62/08, Rn. 14).“

Für letzteres hatte der Kläger allerdings nichts vorgetragen.

Der BGH hat zunächst festgestellt, dass die Schuldnerin im Zeitpunkt der Zahlung von der mangelnden Durchsetzbarkeit der Forderungen ausging, und somit schon gar keine Kenntnis von der (tatsächlich aber eingetretenen) Fälligkeit der Forderungen hatte, und folgert daraus:

„Hatte die Schuldnerin keine Kenntnis davon, dass die gegen sie gerichteten Forderungen fällig waren, kann nicht angenommen werden, dass sie ihre Zahlungsunfähigkeit in einer für den Benachteiligungsvorsatz nach § 133 Abs. 1 InsO sprechenden Weise erkannt hat.“

Auch hier spielt das Bewusstsein des Schuldners also die entscheidende Rolle.

Fazit:

Für einen außenstehenden Gläubiger wird es schwer sein, einen solchen inneren Vorgang auf Seiten des Kunden festzustellen und entsprechenden Gegenvortrag zu führen. Entsprechender Sachvortrag des Verteidigers liefe Gefahr, „ins Blaue hinein“ vorgebracht zu werden. Allerdings zeigt dieser Fall eindrücklich, dass es durchaus Zusammenhänge gibt, die als äußere Anzeichen für einen mangelnden Benachteiligungsvorsatz streiten, und es ist die Pflicht des Gläubigervertreters, diese Anzeichen zu erkennen, zu ermitteln, vorzutragen und Bedenken gegen den Vorsatz zu formulieren, damit das Gericht dem nachgehen und einen Hinweis an den Verwalter erteilen kann.

Nicht ohne einen gewissen Stolz darf ich mitteilen, dass die Verfasserin diese Verteidigungsansätze seit Jahren verfolgt und sozusagen „erfunden“ hat. Umso größer ist jetzt natürlich die Freude, dass der BGH auf diese Linie einschwenkt.

Kann nämlich schon nicht festgestellt werden, dass der Schuldner die Zahlungsunfähigkeit und/oder die gläubigerbenachteiligende Wirkung seiner Zahlungen erkannt hatte, ist der Anfechtungsprozess schon gewonnen, denn dann kommt es auf die Kenntnis von Umständen, die für einen solchen Vorsatz streiten, und somit auf eine Kenntnis des Gläubigers, gar nicht mehr an.

Dabei stellt sich natürlich gleich die nächste Frage, nämlich wie stark die Beweiskraft von Umständen generell sein kann, wenn es grds. möglich ist, dass trotz Vorliegens verdächtiger Indizien tatsächlich fstgestellt werden muss, dass der Schuldner gar keinen Vorsatz hatte. Aber das ist ein anderes Thema.

Ein weiterer, interessanter Aspekt dieser Entscheidung ist Folgender:

Der BGH sagt:

„Ob der Schuldner seine Zahlungsunfähigkeit erkannt hat, hängt in erster Linie davon ab, ob er die Tatsachen kennt, welche die Zahlungsunfähigkeit begründen.“

Frage:

Beinhaltet die Definition des BGH von der Zahlungsunfähigkeit (mindestens 90% Deckung ist binnen 3 Wochen nach Fälligkeit herzustellen) auch solche „Tatsachen“, welche die Zahlungsunfähigkeit begründen? Was ist, wenn der Schuldner die Definition des BGH gar nicht kennt – was häufig der Fall sein wird? Was ist, wenn er geglaubt hat, er habe viel mehr Zeit, seine Verbindlichkeiten zu bedienen, als nur 3 Wochen? Was ist, wenn er den Deckungsgrad seiner Verbindlichkeiten gar nicht kennt, weil er die Buchhaltung erstens nicht selbst und zweitens nicht nach Fälligkeiten erledigt, geschweige denn eine prospektive Finanzflussrechung erstellen lässt?

  • Im Rahmen des § 15b InsO schützt ihn das eher nicht, weil er sich hätte Gewissheit verschaffen können und evtl. auch müssen. Als Geschäftsführer haftet er also für die Zahlung an den Gläubiger.
  • Im Rahmen des § 133 Abs. 1 InsO dürfte aber das Bewusstsein fehlen, das für einen Gläubigerbenachteiligungsvorsatz nun mal notwendig ist. Der Gläubiger haftet also nicht (mit).

„Beim Vorsatz verbietet sich jegliche Spekulation“.

Dieser Grundsatz scheint sich auch in Anfechtungssachen langsam durchzusetzen. Wie schön!

Bonn, den 22.03.2022 / B. Brenner

 

 

 

StaRUG – ein außergerichtliches Restrukturierungsverfahren für KMU?

Der Gesetzgeber hatte in § 16 StaRUG angeordnet, dass das BMJ eine Checkliste für Restrukturierungspläne zu erarbeiten und bekannt zu machen hat, welche an die Bedürfnisse von KMU angepasst ist (gemeint waren freilich wieder einmal KMU als Schuldner und nicht als Gläubiger). Diese Checkliste wird dann auf der Internetseite des BMJ veröffentlicht werden.

Warum sollten Sie sich damit befassen?
Beim Auslaufen der Corona-Hilfen und immer dann, wenn die Konjunktur wieder anzieht, sind etliche Insolvenzen zu erwarten. Nach der Corona-Pandemie werden es vor allem KMU sein, die am Ende der Liquidität angekommen sind, aber Waren ordern und Personal einstellen müssen. Es kann daher durchaus sinnvoll sein, diesen KMU durch schlanke außergerichtliche Schuldenerlass-Pläne zu helfen, am Markt bestehen zu bleiben. Denn durch jede Abwicklungs-Insolvenz geht nicht nur ein Kunde verloren, sondern auch ein Absatzweg.

Die Checkliste des BMJ soll möglichst alle Anforderungen enthalten, die von Gesetzes wegen an einen solchen Restrukturierungsplan gestellt sind. Da über die Restrukturierungspläne, die auf dieser Basis aufgestellt wurden, das Restrukturierungsgericht zu entscheiden haben wird, soll diese Checkliste eine gewisse Rechtssicherheit vermitteln.

Die Checkliste wird freilich nach wie vor keine Aussage über Art und Tiefe der Finanzplanung oder der Vergleichsrechnung mit einem gerichtlichen Insolvenzverfahrens enthalten. Hier spielt aber natürlich die Musik, insbesondere wenn es um die Nachhaltigkeit der Sanierung des Kunden und um die Kosten eines solchen außergerichtlichen Planverfahrens geht (vom Stellenabbau bis zu den Beraterkosten). Je höher die Anforderungen an Inhalt und Umfang der Sanierungspläne sind, desto teurer wird es natürlich. Und dann wird es für KMU schnell unerreichbar und für die Geschäftspartner/Gläubiger zu aufwändig und damit uninteressant.

Das BMJ hat zwischenzeitlich selbst (!?) eine Checkliste entworfen, die als Entscheidungsgrundlage dienen soll, und hat diese den Verbänden zur Stellungnahme übersandt. Sie ähnelt auffallend dem Muster-Inhalt von Insolvenzplänen, ABER:

VORSICHT bei Kreditsicherheiten:
In einem außergerichtlichen Restrukturierungsverfahren dürfen die (nicht besicherten) Gläubiger allein über einen Eingriff in die dinglichen Kreditsicherheiten anderer Gläubiger (verlängerter Eigentumsvorbehalt, Sicherungszession von Forderungen, Sicherungsübereignung von Warenlägern, das Spediteurpfandrecht, Immobiliarsicherheiten…) abstimmen (§ 2 Abs. 1 Ziff. 2 StaRUG, s.u.)! Diese Kreditsicherheiten, die ausschließlich dafür kreiert wurden, in dieser Situation ihre Wirkung zu entfalten, können also im Nachhinein vollständig entwertet werden. Gegen die Abwertung ihrer Sicherheiten können die Gläubiger sich gegenüber dem Gericht zwar wehren; das bedeutet aber immer Aufwand: Personalbindung, Anwaltskosten. Im gerichtlichen Insolvenzplanverfahren wäre das nicht zulässig: Hier wird die Zustimmung des betroffenen Gläubigers vorausgesetzt und seine Zustimmungserklärung ist dem Insolvenzplan beizufügen (§ 228 InsO, s.u.). Das ist vielen Insolvenzverwaltern und Planberatern freilich nicht sehr geläufig, und den Gerichten, die den Plan ablehnen müssten, allzu häufig leider auch nicht. Auch hier ist also Aufwand erforderlich, aber der lohnt sich.

Gläubigerverbände, Lieferanten und Industrie können auf die Gestaltung und die Inhalte der Checkliste jetzt nochmal Einfluss nehmen. Das Ziel ist:
– schlank
– machbar
– zügig
und
– für Gläubiger und Gerichte einfacher nachprüfbar!

Deadline für die Einreichung der Stellungnahme beim BMJ ist der 11. März 2022.

Bonn, den 17.02.2022
B. Brenner
__________________________________

§ 2 StaRUG – Gestaltbare Rechtsverhältnisse
(1) Auf der Grundlage eines Restrukturierungsplans können gestaltet werden:
1. …
2. die an Gegenständen des Schuldnerischen Vermögens bestehenden Rechte, die im Fall der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens zur Absonderung berechtigen würden, es sei denn, es handelt sich bei ihnen um Finanzsicherheiten iSd § 1 Abs. 17 KWG…“

§ 228 InsO – Änderung sachenrechtlicher Verhältnisse
Sollen Rechte an Gegenständen begründet, geändert, übertragen oder aufgehoben werden, so können die erforderlichen Willenserklärungen der Beteiligten in den gestaltenden Teil des Insolvenzplans aufgenommen werden. …“

Triageregeln für Corona-Patient+innen auf der Intensivstation

Das Bundesverfassungsgericht hat durch Beschluss vom 16.12.2021 (1 BvR 1541/20) entschieden, dass der Gesetzgeber besondere Triageregelungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen auf der Intensivstation aufstellen muss.

https://www.deutschlandfunk.de/intensivmedizin-triage-bundesverfassungsgericht-menschen-mit-behinderung-100.html#leitlinien

Die Richter gingen dabei von der Annahme aus,
„dass der Gesetzgeber Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verletzt hat, weil er es unterlassen hat, Vorkehrungen zu treffen, damit niemand wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehenden intensivmedizinischer Behandlungsressourcen benachteiligt wird.“

Das ist so aber nicht richtig, denn es gibt solche Vorkehrungen natürlich längst:

Die medizinische Triage ist ein Standard zum Verhalten im medizinischen Mangelfall und gehört zur ärztlichen Ausbildung in der Notfallmedizin. Dieser Standard orientiert sich ausschließlich an den objektiven – und erkennbaren – Überlebenschancen. Eine unsachgemäße Triage-Entscheidung zu Lasten (erkennbar überlebensfähiger) Behinderter ist bereits gesetzlich geregelt, nämlich im Strafgesetzbuch. Für medizinische Laien ist sie als unterlassene Hilfeleistung nach § 323c StGB und für Ärzt+innen und medizinisches Assistenzpersonal als Tötung durch Unterlassen nach § 222 StGB (fahrlässig) bzw. § 212 StGB (vorsätzlich) unter Strafe gestellt. Dasselbe gilt für andere medizinisch-ethische Entscheidungen, etwa bei der Frage, wen man rettet, wenn man beide zu verlieren droht, aber einen retten könnte: die Mutter oder den (behinderten, aber überlebensfähigen) Fötus.

In der speziellen Situation, die das Bundesverfassungsgericht zu bewerten hatte, ging es um schwer und teilweise schwerst behinderte Menschen, die durch eine Infektion mit dem Corona-Virus besonders gefährdet sind. Wenn lebensrettende Maßnahmen bei diesen Patienten erfolgversprechend sind, werden sie nach dem Triage-Standard aber genauso priorisiert wie nicht behinderte Menschen. OB dies aber der Fall ist, d.h. ob die Chancen wirklich gleich sind, das müssen in der Corona-Situation die Intensivmediziner+innen entscheiden, und zwar schnell. Ob die Beurteilung korrekt getroffen wurde, wird ggfls. von einem medizinischen Sachverständigen ex post überprüft. Allerdings wird dieser stets der besonderen, unübersichtlichen Situation Rechnung tragen, in der es auch zu Fehlentscheidungen kommen kann, was dann ggfls. entschuldbar wäre.

Wer den medizinischen Standard speziell zur Triage einmal nachlesen möchte, dem empfehle ich den hervorragenden Bericht bei Wikipedia und das gründliche Studium der dort angegebenen, weiterführenden Quellen:

https://de.wikipedia.org/wiki/Triage

Eine Behinderung kommt dort als Triage-Merkmal gar nicht vor und hat in der Praxis auch überhaupt keine Relevanz. Dort geht es ausschließlich darum, schnell einzugreifen, um Leben zu retten. DANACH sieht man weiter. Ob der Fahrradfahrer einen Helm getragen hatte oder nicht, interessiert den Notarzt gar nicht. Auch nicht, ob er alkoholisiert war. Die Behandlung geht immer sofort los. Ob ein Mensch in einer lebensbedrohlichen Lage einen Impfstatus hat – und ggfls. welchen –, weiß man im Zweifel ja gar nicht und interessiert in der Triage-Situation auch niemanden. Da geht es ausschließlich um technische Fragen wie Blutstillung, venöse Zugänge, Freilegung der Atemwege, Beatmung, ggfls. Herzmassage, und zwar immer das schnellste erfolgversprechende Mittel zuerst. Das schnelle und nach Möglichkeit richtige Erkennen ist das Problem. Das muss trainiert werden und das kann man nicht gesetzlich verordnen.

Das ist auf der Intensivstation ganz genauso.

Natürlich kommt es dabei – aus der Beurteilung ex post – auch zu Fehlentscheidungen. Das eindrücklichste Beispiel war der Unfalltod von Prinzessin Diana. Hätte man sie schneller in die Klinik transportiert und nicht so lange vor Ort behandelt, hätte der Gefäß-Riß evtl. repariert werden können, hieß es damals. Dieses Ereignis hatte in der Fachpresse die Diskussion um die richtigen Triage-Regeln nochmal angeheizt. Der US-amerikanische Triage-Standard priorisiert z.B. den schnellen Transport in die Klinik vor der Notfallbehandlung am Unfallort („pick&run“), und zwar auch zu Lasten einer schnellen Reanimation. Das kann im Einzelfall genauso falsch sein.
Die Notwendigkeit für eine gesetzliche Fixierung von Triage-Regeln zum Schutz von Menschen mit Behinderungen (bzw. für Ungeimpfte, Nicht-Helmträger+innen, Raucher+innen… you name it) ist daher nicht recht ersichtlich, denn eine strukturelle Vernachlässigung von solchen Patienten wurde in der Notfall- und Intensivmedizin ja gar nicht festgestellt. Eine aus der permanenten Überforderung durch Ungeimpfte geborener Motivationsmangel ist in der Erschöpfungssituation, in der das medizinische Personal sich seit mindestens 2 Jahren permanent befindet, verständlich, darf aber nicht überbewertet werden. Im Ernstfall entscheiden die Ärzt+innen sich immer für das Leben ohne Ansehung der Person. Manchmal entscheidet eben auch der Zufall, aber nie die Behinderung. Sobald Juristen sich über das Thema hermachen, führt das erfahrungsgemäß zu neuer Bürokratie, denn die Entscheidungen müssen dann schriftlich dokumentiert und begründet werden. Gegen eine Analyse ex post ist gar nichts einzuwenden. Zwangsläufig muss der Personalschlüssel nach oben angepasst werden, damit das im Nachhinein ordentlich erledigt werden kann.

Die Lage zu erkennen, die Überlebenschancen korrekt einzuschätzen und schnell und richtig zu triagieren, ist eine ärztliche Kunst, die unbedingt trainiert gehört. Der Gesetzgeber kann dabei gar nicht helfen. Er kann sachgerechte Entscheidungen aber erschweren und ggfls. auch verhindern, weil sie die (Not-)Ärzt+innen verunsichern. Dann könnten gut gemeinte gesetzliche – und entsprechend strafbewehrte – Vorschriften auch mal zu einer unsachgemäßen Bevorzugung von Patient+innen mit Behinderung und zu einer Fehl-Entscheidung zu Lasten von Patient+innen ohne Behinderungen führen. Unsichere Ärzt+innen in einer solchen Situation sind ein Graus!
Hilfreich wäre es aber, wenn die ethische Stütze der medizinischen Triage-Regeln in das Handbuch „Ärztliche Ethik“ des Weltärztebundes aufgenommen würde, Herr Professor Montgomery. Das wäre eine schöne Orientierungshilfe für die Ärzt+innen, die Krankenschwestern und die Rettungsassistent+innen, und das Verfassungsgericht könnte beruhigt davon ausgehen, dass Menschen mit Behinderungen in Deutschland standardmäßig sachgerecht behandelt werden – in der Notfallsituation und auch bei knappen Ressourcen auf der Intensivstation.

29.12.2021 / B. Brenner

partielle Coronaimpfpflicht für das Personal in Pflegeeinrichtungen

Berlin, 08.12.2021 – Im Rahmen einer öffentlichen Anhörung des Hauptausschusses des Deutschen Bundestages haben Sachverständige aller Richtungen heute eine (partielle) Impfpflicht für Angehörige der Gesundheitsberufe für verfassungsrechtlich und ethisch zulässig erachtet. Die Patienten zu schützen, stelle ein legitimes Ziel einer solchen Impfpflicht dar, meinte Prof. Anika Klafki von der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Jena. Dem stimmten sowohl eine Bundesrichter zu als auch die Vorsitzende des Ethikrats.
Das Ergebnis der Anhörung im Hauptausschuss des Deutschen Bundestages ist daher – im Gegensatz zu einer generellen Impfpflicht – schon im Ansatz falsch, denn die partielle Impfpflicht ist völlig ungeeignet, um eine Übertragung des COVID-Virus vom Personal auf die sog. „vulnerablen Gruppen“ zu verhindern.
Dieses Ergebnis beruht deshalb auf einer überraschend unsauberen Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, bei der die Prüfung der Geeignetheit das zentrale Element der Untersuchung ist. Bei der Vorsitzenden des Ethikrates überrascht das nicht weiter; ethischerseits mag es genügen, dass die Maßnahme „gefühlt“ vertretbar erscheint. Aber sie sollte nach Möglichkeit verfassungsmäßig sein. Von einem Bundesrichter und einer Juraprofessorin erwartet man deshalb sauberes juristisches Handwerk: Während die Identifizierung des verfassungsmäßigen Ziels gerade noch gelungen erscheint, scheitert die Verhältnismäßigkeitsprüfung aber bereits an der Geeignetheit des ausgewählten Mittels. Die Impfung der „Wirts“ ist nach inzwischen einhelliger Meinung der Wissenschaftler gerade nicht geeignet, eine Übertragung des Virus auf andere Menschen zu verhindern, also gelingt der Schutz der besonders „vulnerablen“ Menschen durch die Impfung des Personals auch gar nicht. Darin unterscheidet sich die partielle Impfpflicht von der generellen Impfpflicht. Während man den Schutz der besonders vulnerablen Menschen NUR durch DEREN IMPFUNG herstellen kann (und natürlich durch konsequente Testung und Hygiene der Behandlerseite), hat die generelle Impfpflicht ein ganz anderes Ziel, nämlich die Sicherung der medizinischen Grundversorgung der Gesamtbevölkerung vor einer Überlastung der Kliniken und insbesondere der Intensivstationen. Dafür erscheint eine Durch-Impfung der Bevölkerung durchaus geeignet. Aber auch hier wird die Bevölkerung nicht als „Wirt“, also Überträger angesprochen, sondern als Empfänger des Virus.
Eine saubere Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer freiheitsbegrenzenden Maßnahme wie der Impfpflicht sähe demnach so aus:
Ein Eingriff in die grundrechtlich geschützte persönliche Freiheit der Bürger+innen ist zwar gesetzlich zulässig; die Maßnahme muss aber korrekt gegen die gefährdeten Werte abgewogen werden (Stichwort „Verhältnismäßigkeit“). Der Prüfungs-Dreisatz lautet:
1. Ist das geschützte Recht zumindest gleichwertig, wenn nicht sogar höherwertig einzustufen als das einzuschränkende Grundrecht?
2. Ist der geplante Grundrechtseingriff überhaupt geeignet, das verfassungsmäßige Ziel zu erreichen?
3. Gibt es kein milderes Mittel bei gleicher Effizienz?
Bei der generellen Impfpflicht beginnen die Schwierigkeit bereits bei der Frage, welches Ziel überhaupt erreicht werden soll: Der Schutz jedes Bürgers vor einer Infektion ist es jedenfalls nicht, denn dafür ist der Staat nicht zuständig. Es kann aber z.B. um die Vermeidung von Massensterben gehen (wie etwa bei der Pockenepidemie; davon sind wir in der COVID-19-Pandemie allerdings noch weit entfernt) oder um die Vermeidung massenhafter Belegung der Intensivbetten und – damit verbunden – den Kollaps der medizinischen Grundversorgung. Da die Wissenschaft sich auch darüber einig ist, dass sich letztlich jeder Bürger infizieren wird, ob geimpft oder nicht, könnte das Zwischenziel – wenn man die Intensivbetten wegen des Personalmangels halt nun mal nicht beliebig aufstocken kann – also z.B. lauten „Schnellst- und bestmögliche Immunisierung des größten Teils der Bevölkerung“ oder / und die „Verlangsamung der Durchseuchung der Bevölkerung“.
Die Frage ist sodann, ob die generelle Impfpflicht als Maßnahme geeignet ist, massenhafte schwere Krankheitsverläufe zu vermeiden. Das ist wissenschaftlich allerdings inzwischen erwiesen. Diese Frage kann hier – im Gegensatz zur partiellen Impfpflicht – also positiv beantwortet werden.
Damit kommen wir zur Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, d.h. zur Auswahl des mildesten Mittels bei gleicher Eignung: Zur Eingrenzung bzw. Verlangsamung der Durchseuchung kommen mehrere Mittel in Betracht: Kontaktsperren, örtliche bzw. regionale Lockdowns bis hin zum bundesweiten Lockdown, strenge Hygienemaßnahmen (Desinfektion, Maske, Abstand), Abluftsysteme in sämtlichen öffentlich zugänglichen Innenräumen installieren, ständig und konsequent testen und die positiv Getesteten sofort isolieren, und natürlich – die Impfung.
Die Frage ist jetzt, ob und unter welchen Umständen die anderen Mittel gleich geeignet sind, die Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden, und ob sie ggfls. milder sind als die Impfpflicht.
– Die meisten Mittel, wie z.B. strenge Hygieneauflagen und Abluftsysteme, haben sich tatsächlich als nicht geeignet erwiesen, weil es an der Disziplin der Menschen und an Ressourcen mangelt (Bsp. Abluftsysteme in Schulen).
– Der T(eil-)Lockdown kommt meistens zu spät und ist daher nur unzureichend geeignet, um „die Welle“ zu verlangsamen. Wer diese Frage dennoch mit „gleich geeignet“ beantwortet, muss anschließend aber noch prüfen, ob er in der erforderlichen Konsequenz überhaupt ein milderer Grundrechtseingriff ist als die Impfpflicht. Dabei müssen nicht nur das Grundrecht auf persönliche Entscheidungsfreiheit betrachtet werden, sondern auch das Recht der Kinder und Jugendlichen auf Schul- und Ausbildung, die Berufsausübungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Religionsausübungsfreiheit, die Freiheit des Eigentums mit dem Recht an dem eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb und so weiter. Die Menge, die Tiefe und die Dauer der Grundrechtsverletzungen führen dann zwingend zu dem Ergebnis, dass ein Teil-Lockdown gegenüber der Impfpflicht der schwerere Grundrechtseingriff ist.
– Die Testpflicht mit konsequenter Isolierung ad hoc (d.h. die positiv Getesteten bleiben in einer Dekontaminierungs-Einheit im Testzelt und werden mit speziell eingerichteten Seuchenfahrzeugen in die Quarantäne verbracht!) ist in der erforderlichen Dichte und Konsequenz unrealistisch und kommt am Ehesten bei örtlich gut einzugrenzendem Infektionsgeschehen in Betracht (Bsp.: der Pockenausbruch 1962 in Monschau). Die Einhaltung der Testpflicht ist bundesweit im Übrigen nicht mit genügender Sicherheit zu kontrollieren. Somit ist die Testpflicht mit anschließender Isolierung nicht annähernd ein gleich geeignetes Mittel wie die Impfung. Die Frage, ob es ein milderes Mittel wäre, stellt sich somit gar nicht.
Im Ergebnis stellt sich daher die generelle Impfpflicht tatsächlich als das mildeste geeignete Mittel heraus, um das verfassungsmäßig gebotene Ziel, die Grundversorgung der gesamten Bevölkerung aufrecht zu erhalten, sicher zu stellen.
Bei der partiellen Impfpflicht sollen dagegen nur diejenigen zur Impfung verpflichtet werden, die mit den sog. „vulnerablen Gruppen“ engen Kontakt haben müssen, also z.B. Ärzt+innen, Krankenschwestern, Altenpflegerinnen etc. in entsprechenden Einrichtungen (wieso eigentlich nur in den Einrichtungen?). Hier ist das Ziel der Maßnahme nicht primär die Sicherstellung der medizinischen Grundversorgung der Bevölkerung, sondern der Gesundheitsschutz der besonders anfälligen Patienten. Auch das kann in besonderen Fällen eine verfassungsmäßige Aufgabe des Bundes sein. Das könnte z.B. als Auflage für die Betriebserlaubnis formuliert werden. Einfacher für die Betreiber der Einrichtungen ist es aber natürlich, wenn das Personal der Normadressat ist, weil dann der Staat für die Durchsetzung sorgt. Mittelbar würden diese besonders anfälligen Personen natürlich auch die Intensivstationen füllen, wenn sie weiterhin besonders anfällig bleiben für schwere Verläufe, obwohl sie geimpft sind. Wenn das so ist, dann ist die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung auch in Gefahr. Dafür ist der Bund wiederum zuständig. Das Ziel müsste hier also lauten „Vermeidung der Übertragung des Virus auf besonders gefährdete Menschen“ und wäre als Zielbeschreibung sicher auch verfassungsgemäß.
Die Prüfung der Geeignetheit ist hier aber schon schwieriger. Es ist bekannt und wissenschaftlich erwiesen, dass die Impfung gar nicht geeignet ist, die Übertragung des Virus auf Einzelpersonen zu verhindern. Sie ist ausschließlich geeignet, schwere Krankheitsverläufe bei den GEIMPFTEN zu verhindern.
Was jetzt?
Geeignete Maßnahmen sind aber – und zwar ausschließlich
– die Impfung und konsequente Auffrischungsimpfung der vulnerablen Gruppen selbst und
– konsequente Einhaltung von Hygienemaßnahmen und tägliche Tests des ärztlichen sowie des Pflege- und Betreuungspersonals.
Ob das Pflege- und Betreuungspersonal selbst geimpft ist oder nicht, ist dagegen völlig irrelevant.
Etwas anderes ergibt sich nur, wenn die Wissenschaftler herausfinden, dass auch die Impfung des „Wirts“ eine Übertragung des Virus auf Dritte erheblich erschwert. Dann muss die Prüfung unter diesem Aspekt wiederholt werden.

Bonn, den 08.12.2021 / B. Brenner

1 2 3 7