Last exit in der Strafverteidigung: Die Besetzungsrüge!
Dem angeklagten Arzt drohte wegen angeblichen Abrechnungsbetruges in 16 Fällen eine Gesamtfreiheitsstrafe von 7 Jahren, dazu Berufsverbot, Entzug der KV-Zulassung – die ganz große Oper. Wenn alles nichts hilft – mit der „Besetzungsrüge“ kann der Verteidiger ein „last exit“ im Strafverfahren und vor allem eine Verhandlungssituation über eine sog. „Verständigung“ nach § 257c StPO erreichen . Berufung und Revision führen nur in seltenen Fällen zur Aufhebung eines Strafurteils. Bei der Besetzungsrüge ist das allerdings anders! Es gehört also zur ureigensten Aufgabe eines Strafverteidigers, nicht nur die Anklageschrift und die Beweismittel zu studieren (und sich in der Materie bestens auszukennen), sondern auch die Besetzungsliste der Kammern anzufordern und sie zu überprüfen. Dabei fallen nämlich nicht selten Fehler z.B. bei der Auswahl der Schöffen ins Auge. Allerdings hat der Verteidiger dafür nur bis zum ersten Verhandlungstag Zeit. Eine rügelose Verhandlung am ersten Tag heilt bereits die Fehlbesetzung.
Fehlbesetzungen können aber auch im Laufe der – oft mehrmonatigen – Verhandlung passieren, wie folgender Fall zeigt, der am 07.11.2016 vom BGH – 2 StR 9/15 – entschieden wurde:
Die von der Strafkammer durchgeführte Hauptverhandlung gegen den Angeklagten begann am 24.08.2012 und endete am 11.04.2014. Zwischen dem 20.12. und dem 03.01. fand keine Verhandlung statt. Der Prozess endete mit einer Verurteilung des Angeklagten zu 7 Jahren Freiheitsstrafe. Die Strafkammer war mit 3 Berufsrichtern (und 2 Schöffen) besetzt. Einer der Berufsrichter war eine Frau und diese war noch am letzten Verhandlungstag vor der Weihnachtspause – deutlich sichtbar – hoch schwanger gewesen. Am nächsten Verhandlungstag, dem 03.01.2014, war sie das aber offensichtlich nicht mehr. Womöglich hatte sie in der Zwischenzeit entbunden, ihre Tätigkeit aber – zur Freude des Kammervorsitzenden – sogleich wieder aufgenommen, denn sonst wäre der Prozess gegen den Angeklagten wegen Überschreitung der 3-Wochen-Frist zwischen den Terminen geplatzt. Rechtsanwältin Pfiffikus kannte sich allerdings mit dem Mutterschutzgesetz und den Beamtengesetzen des Landes aus:
Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Mutterschutzgesetz („MuSchG“) in Verbindung mit § 1 Abs. 1, Satz 1 Nr. 2 Hess MuSchEltZVO besteht ein absolutes Beschäftigungsverbot für 8 Wochen nach der Entbindung eines (lebenden) Kindes.
Sie erbat also Auskunft darüber, ob und wann die Richterin entbunden hätte. Eine Auskunft bekam sie allerdings nicht, und zwar weder vom Kammervorsitzenden noch vom Präsidenten des Landgerichts noch vom Justizministerium. Die (rechtzeitig erhobene) Besetzungsrüge wurde abgeschmettert mit der Begründung, die Richterin könne selbst entscheiden, ob sie überobligatorischen Dienst verrichten wolle oder nicht. Der Prozess ging weiter und der Angeklagte wurde verurteilt.
Nun gibt es einen Erfahrungsgrundsatz: Wenn man von Behörden KEINE Auskunft erhält, dann ist etwas richtig faul. So auch hier:
Auf die Revision der Verteidigerin hob der Bundesgerichtshof das Urteil am 7.11.2016 wieder auf, und verteilte gleichzeitig eine justizielle Ohrfeige an den Kammervorsitzenden: Das Beschäftigungsverbot sei ernst gemeint, denn es handle sich um ein GESETZLICHES VERBOT! Darauf kann auch die Mutter nicht verzichten! (Das können Strafrichter natürlich nicht wissen, ist ja klar!) Der Verstoß habe deshalb automatisch dazu geführt, dass die Richterbank nicht „gesetzlich korrekt“ besetzt war. Das Urteil wurde aufgehoben und Verfahren an eine andere Kammer des Landgerichts zurück verwiesen. Es muss nun wieder von vorn angefangen werden.
FAZIT:
Die Anwältin hat damit eine günstige VERHANDLUNGSSITUATION herbeigeführt. Sitzt der Angeklagte allerdings in Untersuchungshaft, dann hat sie Zeitdruck, denn mit ihrer erfolgreichen Rüge hat sie zunächst mal nur die U-Haft ihres Mandanten auf unabsehbare Zeit verlängert, ohne in der Sache etwas gewonnen zu haben! Und DAS muss der Mandant ja mögen!
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