KV/ZA – § 103 Abs. 3a SGB V – Nachbesetzung eines Vertragsarztsitzes – Gemeinschaftspraxis – Praxiskauf – Verbrauch des Nachbesetzungsantrags durch Rücknahme – Voraussetzungen für erneutes Nachbesetzungsverfahren – Gesundheitsstrukturgesetz

BSG, Urt. v. 12.02.2021

Gelsenkirchen – Um künftig im Rahmen einer überörtlichen orthopädischen Berufsausübungsgemeinschaft („BAG“) tätig zu werden, beantragte ein Mitglied der BAG, der Orthopäde Dr. We., beim Zulassungsausschuss („ZA“) der KV Westfalen-Lippe, seinen Vertragsarztsitz an den Vertragsarztsitz eines andernorts niedergelassenen Orthopäden am Zielort zu verlegen. Gleichzeitig sollte der am Zielort zugelassene Orthopäde auf seine Zulassung verzichten und die Durchführung eines Nachbesetzungsverfahrens zu Gunsten der BAG beantragen. Diese wollte den Praxissitz nicht selbst, sondern durch den abgebenden Orthopäden als angestelltem Arzt weiter betreiben.

Der ZA hatte gem. § 103 Abs. 3a, Satz 3 SGB V zunächst darüber zu entscheiden, ob der KV-Sitz am Zielort wegen der Versorgungslage überhaupt fortführungsbedürftig war. Nachdem das bejaht wurde, fand die Ausschreibung durch die KV statt. Es bewarben sich die BAG und der Kläger (Dr. Wi.), der die Kassenzulassung am Zielort  persönlich ausüben wollte.

Der ZA traf seine Auswahlentscheidung zugunsten der BAG. Die KV genehmigte dieser daraufhin, den Vertragsarztsitz des abgebenden Orthopäden zu übernehmen und die Praxis künftig mit diesem als angestelltem Arzt fortzuführen. Der Kläger wurde nicht berücksichtigt. Den dagegen eingelegten Widerspruch des Klägers wies der Berufungsausschuss zurück und ordnete die sofortige Vollziehung der Entscheidung an. Dagegen klagte Dr. Wi. Vor dem Landessozialgericht.

Nachdem dieser Klage erhoben hatte, nahm der abgebende Arzt seinen Antrag auf Nachbesetzung jedoch wieder zurück, und beendete die Situation damit vorzeitig. Die Klage des abgelehnten Mitbewerbers, die ursprünglich zulässig gewesen war, wurde somit nachträglich unzulässig. Die Klage wurde vom Sozialgericht denn auch als unzulässig abgewiesen. Dagegen wandte sich Dr. Wi. mit der Sprungrevision zum BSG mit dem Argument, die Rücknahme des Antrags sei unwirksam, da ansonsten einem missbräuchlichen Einfluss des abgebenden Arztes auf das Ausschreibungsverfahren Tür und Tor geöffnet sei. Die Revision des Dr. Wi. zum BSG hatte jedoch keinen Erfolg:

Das Nachbesetzungsverfahren dient den Interessen des abgabewilligen Arztes bzw. seiner Erben. Die Interessen der Bewerber um den Sitz sind nur insoweit zu berücksichtigen, als die Auswahl unter ihnen nach den gesetzlich vorgeschriebenen Kriterien erfolgt. Auch ein vom ZA ausgewählter Bewerber hat im Verhältnis zum abgabewilligen Arzt immer nur eine tatsächliche Chance auf die Übernahme von Praxis und Vertragsarztsitz, aber keine Rechtsposition, kraft derer die Durchführung des Verfahrens gegen den Willen des abgebenden Arztes verlangt werden könnte“, so das BSG. Ein Bewerber, der nicht ausgewählt worden sei, könne demnach erst recht keine schutzwürdige Rechtsposition erwerben.

https://www.bsg.bund.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/2020_02_12_B_06_KA_19_18_R.html

Fazit:

Ein abgabewilliger Arzt hat jedoch bis zur rechtkräftigen Bestellung eines Bewerbers durch die KV die Möglichkeit, das Nachbesetzungsverfahren durch Rücknahme seines Antrags jederzeit zu beenden. Er darf sich dabei zwar von Überlegungen leiten lassen, die sich auf die Person des Bewerbers beziehen; das ist aber gefährlich, denn das Ausschreibungsrecht ist nach Rücknahme des Antrags grundsätzlich erst einmal verbraucht. Der antragsrücknehmende Arzt läuft daher Gefahr, dass die Übergabe ein- für allemal scheitert, wenn er den Antrag nach der Auswahlentscheidung des ZA wieder zurücknimmt oder dem ausgewählten Arzt die Praxis dann doch nicht verkauft, etwa weil ihm der Kaufpreis dieses Kandidaten zu niedrig erscheint, und der nicht ausgewählte Kandidat mehr geboten hatte.

Vorliegend führte die Rücknahme des Ausschreibungsantrags also notwendigerweise zum Scheitern des gesamten Nachbesetzungsverfahrens. Eine erneute Ausschreibung ist nur möglich, wenn für die Rücknahme des Antrags billigenswerte Gründe angeführt werden können. Die Absicht, auf die Auswahl eines bestimmten Nachfolgers hinzuwirken, ist grundsätzlich kein solcher Grund. Auch ob ein zu niedriger Kaufpreis ein solches Kriterium sein kann, ist fraglich. Mit der Rücknahme des Antrags stand das gesamte BAG-Konstrukt somit wieder infrage. Die Rücknahme wird dennoch wohl überlegt gewesen sein. Denn mit der Antragsrücknahme hatte der abgebende Orthopäde immerhin auch auf die Klageerhebung durch den Mitbewerber reagiert, die ein langjähriges sozialgerichtliches Verfahren und somit auch einen langjährigen Schwebezustand bezüglich der Nachbesetzung seines Sitzes und seiner Angestelltentätigkeit in der BAG ausgelöst hatte. Das könnte durch ein erneutes Ausschreibungsverfahren verhindert werden, so die Hoffnung. Das BSG deutete im vorliegenden Fall in der Tat an, dass in dieser Motivation, nämlich der Abkürzung eines jahrelangen Schwebezustandes, tatsächlich ein berechtigtes Interesse des Abgebenden für ein erneutes Nachbesetzungsverfahren liegen könnte.

Dieser Hinweis des BSG-Senats wird Schule machen, denn der zeitliche Schwebezustand ist bei „Konkurrenten“-Klagen im Nachbesetzungsverfahren immer gegeben. Fraglich ist, wie die Konkurrenz dieses Instrument künftig nutzen wird. Im vorliegenden Fall wird die BAG in einem zweiten Nachbesetzungsverfahren die Chancen, die durch § 103 Abs. 4, Satz 5, Ziff. 1 – 9 eröffnet werden, nutzen und gut vorbereiten wollen.

Die Höhe des Kaufpreises, also das wirtschaftliche Interesse des abgebenden Arztes bzw. seiner Witwe, sind jedenfalls kein Kriterium für die Auswahl durch die KV. Die Praxis als Wertanlage scheidet somit seit Einführung des Nachbesetzungsverfahrens nach § 103 Abs. 3a SGB V durch das Gesundheitsstrukturgesetz vom 21. 12. 1992 (BGBl I S. 2266) als Kriterium für die KV’en aus. Auch Kinder sind als Nachfolger nicht gesetzt, es sei denn, sie waren – wie jede/-r angestellte Ärztin/Arzt – bei Eintritt des Erbfalles bzw. bei Abgabe des KV-Sitzes bereits seit mindestens 3 Jahren als Angestellte in der Praxis der Eltern tätig.

https://www.aerztezeitung.de/Politik/Das-hat-das-Gesundheitsstrukturgesetz-gebracht-286232.html

§ 103 Abs. 3a SGB  https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_5/__103.html

1Wenn die Zulassung eines Vertragsarztes in einem Planungsbereich, für den Zulassungsbeschränkungen angeordnet sind, durch Tod, Verzicht oder Entziehung endet, und die Praxis von einem Nachfolger weitergeführt werden soll, entscheidet der Zulassungsausschuss auf Antrag des Vertragsarztes oder seiner zur Verfügung über die Praxis berechtigten Erben, ob ein Nachbesetzungsverfahren nach Absatz 4 für den Vertragsarztsitz durchgeführt werden soll. 2Satz 1 gilt auch bei Verzicht auf die Hälfte oder eines Viertels der Zulassung oder bei Entziehung der Hälfte oder eines Viertels der Zulassung; Satz 1 gilt nicht, wenn ein Vertragsarzt, dessen Zulassung befristet ist, vor Ablauf der Frist auf seine Zulassung verzichtet. 3Der Zulassungsausschuss kann den Antrag ablehnen, wenn eine Nachbesetzung des Vertragsarztsitzes aus Versorgungsgründen nicht erforderlich ist; dies gilt nicht, sofern die Praxis von einem Nachfolger weitergeführt werden soll, der dem in Absatz 4 Satz 5 Nummer 4, 5 und 6 bezeichneten Personenkreis angehört oder der sich verpflichtet, die Praxis in ein anderes Gebiet des Planungsbereichs zu verlegen, in dem nach Mitteilung der Kassenärztlichen Vereinigung aufgrund einer zu geringen Ärztedichte ein Versorgungsbedarf besteht oder sofern mit der Nachbesetzung Festlegungen nach § 101 Absatz 1 Satz 8 befolgt werden. 4Für einen Nachfolger, der dem in Absatz 4 Satz 5 Nummer 4 bezeichneten Personenkreis angehört, gilt Satz 3 zweiter Halbsatz mit der Maßgabe, dass dieser Nachfolger die vertragsärztliche Tätigkeit in einem Gebiet, in dem der Landesausschuss nach § 100 Absatz 1 das Bestehen von Unterversorgung festgestellt hat, nach dem 23. Juli 2015 erstmals aufgenommen hat. 5Für einen Nachfolger, der dem in Absatz 4 Satz 5 Nummer 6 bezeichneten Personenkreis angehört, gilt Satz 3 zweiter Halbsatz mit der Maßgabe, dass das Anstellungsverhältnis oder der gemeinschaftliche Betrieb der Praxis mindestens drei Jahre lang angedauert haben muss. 6Satz 5 gilt nicht, wenn das Anstellungsverhältnis oder der gemeinschaftliche Praxisbetrieb vor dem 5. März 2015 begründet wurde. 7Hat der Landesausschuss eine Feststellung nach Absatz 1 Satz 3 getroffen, soll der Zulassungsausschuss den Antrag auf Durchführung eines Nachbesetzungsverfahrens ablehnen, wenn eine Nachbesetzung des Vertragsarztsitzes aus Versorgungsgründen nicht erforderlich ist. 8Im Fall des Satzes 7 gelten Satz 3 zweiter Halbsatz sowie die Sätze 4 bis 6 entsprechend; Absatz 4 Satz 9 gilt mit der Maßgabe, dass die Nachbesetzung abgelehnt werden soll. 9Der Zulassungsausschuss beschließt mit einfacher Stimmenmehrheit; bei Stimmengleichheit ist dem Antrag abweichend von § 96 Absatz 2 Satz 6 zu entsprechen. 10§ 96 Absatz 4 findet keine Anwendung. 11Ein Vorverfahren (§ 78 des Sozialgerichtsgesetzes) findet nicht statt. 12Klagen gegen einen Beschluss des Zulassungsausschusses, mit dem einem Antrag auf Durchführung eines Nachbesetzungsverfahrens entsprochen wird, haben keine aufschiebende Wirkung. 13Hat der Zulassungsausschuss den Antrag abgelehnt, hat die Kassenärztliche Vereinigung dem Vertragsarzt oder seinen zur Verfügung über die Praxis berechtigten Erben eine Entschädigung in der Höhe des Verkehrswertes der Arztpraxis zu zahlen. 14Bei der Ermittlung des Verkehrswertes ist auf den Verkehrswert abzustellen, der nach Absatz 4 Satz 8 bei Fortführung der Praxis maßgeblich wäre.“

  • 103 Abs. 4 Satz 5 Ziff. 6:

„Bei der Auswahl der Bewerber sind folgende Kriterien zu berücksichtigen:

  1. ob der Bewerber ein angestellter Arzt des bisherigen Vertragsarztes oder ein Vertragsarzt ist, mit dem die Praxis bisher gemeinschaftlich betrieben wurde,

  1. bei medizinischen Versorgungszentren die Ergänzung des besonderen Versorgungsangebots; dies gilt entsprechend für Vertragsärzte und Berufsausübungsgemeinschaften mit einem besonderen Versorgungsangebot.“